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„Wie eine Schiffsreise auf unbekannten Gewässern“

Auch Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler gründen Unternehmen – die Freie Universität unterstützt sie dabei

14.08.2019

Boas Bamberger, David Biller, Florian Dyballa und Arbnor Raci (v.l.n.r.) helfen jungen Menschen mit einer App bei der Berufswahl.

Boas Bamberger, David Biller, Florian Dyballa und Arbnor Raci (v.l.n.r.) helfen jungen Menschen mit einer App bei der Berufswahl.
Bildquelle: Aivy, Fotograf: Guido Schwarz

„Und was macht man dann damit?“ Diese Frage nach den Berufsaussichten kennen viele Studierende, die sich für ein sozial- oder geisteswissenschaftliches Fach entschieden haben. Eine von vielen möglichen Antworten könnte heißen: ein Unternehmen gründen. Noch aber erscheint vielen wohl der Gedanke, ihren Arbeitsplatz zu sichern, indem sie eigene Geschäftsideen umsetzen, als geradezu verwegen: Tatsächlich wagen bisher nur wenige Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler diesen Schritt.

„Viele können sich gar nicht vorstellen, dass eine Unternehmensgründung eine anspruchsvolle und spannende Aufgabe sein kann“, sagt Oliver Schmidt. Als Gründungsberater bei Profund Innovation, der Service-Einrichtung für die Förderung von Unternehmensgründungen und Innovationen in der Abteilung Forschung der Freien Universität, arbeitet er daran, eine besondere Gründungskultur für die Geistes- und Sozialwissenschaften zu etablieren.

Oliver Schmidt ist Gründungsberater bei Profund Innovation.

Oliver Schmidt ist Gründungsberater bei Profund Innovation.
Bildquelle: Jasmin Hazim / Profund Innovation

Das Selbstbild in diesen Disziplinen sei dabei anders als das in technischen Fächern, sagt der Gründungsberater. Typische geistes- oder sozialwissenschaftliche Gründungen seien wissens-, dafür aber wenig kapitalintensiv. Die Geschäftsideen sollen helfen, soziale Fragen zu lösen. Er habe die Erfahrung gemacht, dass diese Social Entrepreneurs häufiger aus Überzeugung handelten „Es geht ihnen weniger um den finanziellen Erfolg als um den Nutzen für andere“, sagt Oliver Schmidt. Gerade unter Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern begegnet der Gründungsberater immer noch einem gewissen Maß an Argwohn gegenüber betriebswirtschaftlichem Denken. „Marktorientierung und gesellschaftlicher Mehrwert müssen sich aber nicht gegenseitig ausschließen.“ Sozialunternehmen könnten mit innovativen, auf nachhaltige gesellschaftliche Veränderung zielenden Ansätzen einen bedeutenden Beitrag für Gesundheit, Bildung, Kultur oder Umwelt leisten.

Aumio hilft, die Symptome von ADHS zu lindern

Eines der Gründungsprojekte, die Oliver Schmidt dabei vor Augen hat, ist Aumio: Jean Ochel und drei Mitgründer arbeiten im Inkubator der Freien Universität an einer Online-Trainingsplattform für Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). „Aumio möchte Kinder und ihre Familien dabei unterstützen, die Symptome von ADHS zu lindern“, sagt Jean Ochel. „Dazu nutzen wir auf spielerische Art die wissenschaftlich fundierten Methoden der Achtsamkeitsmeditation.“ Meditation könne bei Kindern die Kontrolle von Aufmerksamkeit und die Gefühlsregulierung stärken.

Während seines Psychologiestudiums an der Freien Universität begann Jean Ochel, sich für alternative ADHS-Therapien zu interessieren, die zumindest bei leichter bis mittelschwerer Symptomatik ebenso gut wie Medikamente wirken können. Als Teil seiner Masterarbeit entstand der erste Prototyp für Aumio. „Das positive Feedback von Eltern und Kindern hat mich ermutigt, die Idee voranzutreiben.“ Unterstützung erhielt er dabei von Professorin Christine Knaevelsrud und ihrem Arbeitsbereich, der die Einsatzmöglichkeiten digitaler Medien in der psychotherapeutischen Behandlung schon lange erforscht.

Die App der Aumio-Gründer Tilman Wiewinner, Steffen Scherf, Jean Ochel und Felix Noller (v.l.n.r.) nutzt Meditation, um ADHS-Symptome zu lindern.

Die App der Aumio-Gründer Tilman Wiewinner, Steffen Scherf, Jean Ochel und Felix Noller (v.l.n.r.) nutzt Meditation, um ADHS-Symptome zu lindern.
Bildquelle: Jasmin Hazim

Geschäftsinteressen stehen bei Aumio noch im Hintergrund. „Wir wollen gemeinsam mit Kindern und ihren Familien etwas kreieren, das deren Bedürfnissen wirklich gerecht wird“, sagt Jean Ochel. Eine solche Lösung hätte allerdings auch ein großes Geschäftspotenzial: Der Markt in Deutschland für nicht-medikamentöse ADHS-Therapie umfasse rund eine halbe Milliarden Euro. Krankenkassen könnten in Zukunft die Nutzungsgebühr von Aumio übernehmen. „Schon heute erstatten manche gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für Meditations-Apps. Und das ganz ohne Diagnose!“

Seit einem Vierteljahr profitiert das Aumio-Team vom Berliner Startup Stipendium. Mit diesem Programm, das aus Mitteln der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe sowie des Europäischen Sozialfonds finanziert wird, fördern die Freie Universität, die Charité, die Technische Universität und die Humboldt-Universität seit 2016 Gründerinnen und Gründer, die neuartige Geschäftsideen umsetzen wollen. Das Stipendium hat Jean Ochel und sein Team auf einen guten Weg gebracht. „Ich hätte auch gerne im Zuge einer Promotion weiter dazu geforscht. Dann hätte ich aber vielleicht nie ein Produkt entwickelt, das Menschen im echten Leben tatsächlich nutzen“, sagt Jean Ochel.

Mit den Zukunftsbauern fit für die Berufe der Zukunft

Vom Berliner Startup Stipendium profitieren auch Die Zukunftsbauer. Gründerin Aileen Moeck hat an der Freien Universität den Masterstudiengang Zukunftsforschung absolviert und 2018 mit einem Team aus Zukunftsforschern, Pädagogen und Designern das Bildungsprojekt Die Zukunftsbauer gestartet. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung ausgezeichnete Start-up möchte junge Menschen auf die Welt von morgen vorbereiten. „Wir haben uns gefragt: Wie macht man Schulkinder für immer komplexere Arbeitswelten der Zukunft fit? Und für Berufe, die heute noch nicht existieren?“, sagt Aileen Moeck. Damit das gelingt, hat das Team Lehrbausteine, sogenannte „Missionen“, für verschiedene Schul- und Altersklassen entwickelt, die sich zum Beispiel im Schulfach „Arbeit, Wirtschaft, Technik“ oder im Rahmen der Studien- und Berufsvorbereitung in den Unterricht integrieren lassen.

Die Zukunftsbauer, Tanja Schindler, Magda Eder, Aileen Moeck und Franziska Ewers (v.l.n.r.) bringen die Arbeitswelten der Zukunft in die Schule.

Die Zukunftsbauer, Tanja Schindler, Magda Eder, Aileen Moeck und Franziska Ewers (v.l.n.r.) bringen die Arbeitswelten der Zukunft in die Schule.
Bildquelle: Die Zukunftsbauer

Für ein Pilotprojekt an sechs Schulen haben Die Zukunftsbauer 10.000 Euro durch eine Crowdfunding-Kampagne gesammelt, bis Ende des Jahres wollen sie eine dauerhafte Finanzierung finden. Die Krux dabei sei, dass viele Förderprogramme auf Ingenieurwissenschaften ausgerichtet seien. „Für Start-ups aus den Geistes- und Sozialwissenschaften gibt es keine öffentlichen Finanzierungsprogramme“, sagt Aileen Moeck. Dass die Förderlandschaft vor allem auf technische Gründungen zugeschnitten ist, sieht auch Oliver Schmidt. Doch er ist zuversichtlich, dass sich in nächster Zeit einiges bewegen werde: „Zum Beispiel fördert die Investitionsbank Berlin als Förderbank des Landes Berlin seit Juni gezielt solche Projekte, bei denen ein soziales Anliegen im Vordergrund steht.“

Tatort Zukunft will die Resozialisierung von Strafgefangenen verbessern

Auch die Diplomjuristin Anna Kroupa glaubt, dass die Rolle kleiner Dienstleistungsgründungen, die soziale statt technische Innovationen bieten, in Zukunft immer wichtiger wird. Gemeinsam mit zwei weiteren Promovierenden hat die Doktorandin das Start-up Tatort Zukunft initiiert, um Forschungsergebnisse aus der Kriminologie in die Resozialisierung von Strafgefangenen einzubringen. „Die Nachfrage für Sozialarbeit im und nach dem Strafvollzug steigt“, sagt Anna Kroupa. Eine bessere Bewährungshilfe könnte die Rückfallquote entlassener Häftlinge reduzieren. „Dadurch spart die öffentliche Hand viel Geld für teure Haftplätze, und die Bürgerinnen und Bürger leben sicherer.“

Mit dem Gründungsprojekt "Tatort Zukunft" wollen Juristin Anna Kroupa (Foto) und ihr Team die Rückfallquote entlassener Häftlinge reduzieren.

Mit dem Gründungsprojekt "Tatort Zukunft" wollen Juristin Anna Kroupa (Foto) und ihr Team die Rückfallquote entlassener Häftlinge reduzieren.
Bildquelle: Jasmin Hazim

Vorbild sind Projekte in den USA, die das Leben inner- und außerhalb der Gefängnismauern verändern wollen, indem Möglichkeiten zur Weiterbildung und zur Selbstreflexion geschaffen werden. Im vergangenen Wintersemester konnte Tatort Zukunft unter der Leitung von Kirstin Drenkhahn, Professorin für Strafrecht und Kriminologie an der Freien Universität, das Seminar „Uni im Vollzug“ in der Justizvollzugsanstalt Tegel umsetzen: erstmals in Deutschland lernten hier in Freiheit lebende Studierende gemeinsam mit Gefangen, die in Haft studieren. Ein auf Deutschland passendes Geschäftsmodell will das Team noch entwickeln, als Kunden kämen der Berliner Senat und der Bund in Frage.

Aivy: Spielend zum passenden Beruf

Der Psychologie-Absolvent Boas Bamberger und sein Team entwickeln eine App, die auf spielerische Weise die Berufswahl erleichtern soll. Geht es nach den Gründern, machen algorithmisch ermittelte Berufsprofile Schluss mit langweiliger Berufsberatung. Um das zu erreichen, verpackt Aivy psychometrische Eignungs- und Persönlichkeitstests in kurzweilige Minispiele, die helfen sollen, verborgene Potenziale zu entdecken. „Mit Aivy können junge Menschen einen Job finden, der zu ihren Fähigkeiten, Neigungen und Lebensbedingungen passt“, sagt Boas Bamberger. „Unsere Verfahren sind wissenschaftlich fundiert und decken Interessen, Kompetenzen und Persönlichkeit ab. Auf diese Weise können wir unseren Nutzerinnen und Nutzern passende Stelleangeboten vorschlagen.“

Am Start-up-Leben schätzt Boas Bamberger besonders die Selbstständigkeit: „Eine Gründung ist wie eine Schiffsreise auf unbekannten Gewässern – ein Abenteuer.“ Man durchlaufe auch eine Persönlichkeitsschule, die alle Menschen, gleich aus welcher Fachdisziplin, bereichere. Nur würde man im Studium kaum auf ein solches Abenteuer vorbereitet. „Man muss schon ein gewisses betriebswirtschaftliches Verständnis mitbringen“, davon ist Boas Bamberger überzeugt. Wissen über spezielle Themen – von Kapitalbeschaffung bis Steuerrecht – könne man sich aber durch Kurse aneignen.

Der Prototyp von Aivy ist fertig. In mehreren Testläufen konnte das Team die Software erproben und erfahren, wie sie mit echten Probanden funktioniert. Seit August kann man die App im iOS App Store oder im Google Play Store herunterladen. Gründungsinteressierten rät Bamberger: „Seid mutig und traut euch!“

Weitere Informationen

Profund Innovation ist die Service-Einrichtung für die Förderung von Unternehmensgründungen und Innovationen in der Abteilung Forschung der Freien Universität. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützen Studierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Alumni dabei, Anwendungsideen für ihre Forschung zu entwickeln, Startups bzw. Spin-Offs zu gründen sowie Forschungsergebnisse gemeinsam mit etablierten Unternehmen zu verwerten. Wenn Sie die Angebote von Profund Innovation nutzen wollen, melden Sie sich bitte zur kostenlosen Beratung an.