Ständische Ungleichheit und Geschlechterforschung
Claudia Ulbrich – 2011
Der Beitrag geht auf einen Vortrag auf dem Historikertag in Dresden im Jahr 2008 zurück, in dem danach gefragt wurde, inwiefern soziologische Ungleichheitstheorien für die Erforschung der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit nutzbar gemacht worden sind und welche Perspektiven sich für eine zukünftige Erforschung von Ungleichheit abzeichnen. In Bezug auf die Geschlechterforschung wurde die Frage gestellt, welchen Stellenwert neuere Ansätze, wie sie vor allem im Zusammenhang mit dem Konzept der „Intersektionalität“ diskutiert wurden, einnehmen könnten. Zentral war die Beobachtung, dass in der Soziologie angesichts der steigenden Bedeutung von Ungleichheit in gegenwärtigen Gesellschaften seit längerem ein social (re)turn gefordert wird. Verschiedentlich wurde vorgeschlagen, mit Hilfe des Konzepts der Intersektionalität die Achsen der Differenz neu zu konfigurieren. Der Vorteil dieses Konzepts scheint nicht zuletzt darin zu liegen, dass es konsensfähiger ist als die älteren, durchaus ähnlichen Vorschläge, Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie zu fassen, die in dem Beitrag ausführlich gewürdigt werden. Beide Konzepte stellen Wege dar, Ungleichheit in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit unter Einbeziehung mehrerer Ungleichheitskategorien und unterschiedlicher Untersuchungsebenen zu erforschen und mit der Forderung des both/and die Gräben zu überwinden, die es über diskursanalytische und praxe¬ologische Ansätze gegeben hat. Da sexuelle Differenz in der Geschichte immer wieder dazu benutzt wurde, Ungleichheit mit der Natur zu begründen und damit die soziale Konstruktion zu verschleiern, ist die von Joan Scott aufgeworfene Frage, in welchen gesellschaftlichen Kontexten Geschlecht bzw. Zweigeschlechtlichkeit Bedeutung erhalten, eine wichtige, in der allgemeinen Geschichte oft übersehene Erweiterung sozialgeschichtlicher Forschung und ein Ausgangspunkt, die ständische Gesellschaft neu zu denken.
Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit / Studies in Early Modern History, Culture and Science, Band 15 (2011), H. 1: Soziale Ungleichheit und ständische Gesellschaft. Theorien und Debatten in der Frühneuzeitforschung, hrsg. von Marian Füssel und Thomas Weller, S. 85-104.
Wir danken Claudia Ulbrich und dem Vittorio Klostermann Verlag für die Erlaubnis zur Veröffentlichung des Textes. Bestellmöglichkeiten unter: http://www.klostermann.de/zeitsch/zspr_151.htm
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Über die Autorin
Claudia Ulbrich, Historikerin, seit 1993 Professorin für die Geschichte der Frühen Neuzeit und Geschlechtergeschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, Gastwissenschaftlerin u.a. an der Universität Wien, EHESS/Paris, MSH/Paris, Universität Wisconsin-Madison (George L. Mosse Program), LBI Jerusalem, seit 2003 Sprecherin der DFG Forschergruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“; Mitherausgeberin der Zeitschrift L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft und der Reihen: L’Homme-Schriften, L’Homme-Archiv sowie Selbstzeugnisse der Neuzeit.
Kontakt
Prof. Dr. Claudia Ulbrich
FU Berlin - Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften – FMI
Koserstr. 20, 14195 Berlin
Wichtige Veröffentlichungen
Leibherrschaft am Oberrhein im Spätmittelalter (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 58), Göttingen 1979
Shulamit and Margarete. Power, Gender and Religion in a Rural Society in Eighteenth-Century Europe, transl. by Thomas Dunlap (Studies in Central European Histories, 32), Brill Academic Publishers 2004, Neuausg. Paperback 2005 (dt. 1999, teilübers. ins Russ. 2003)
gemeinsam mit Gabriele Jancke, Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung (= Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 10), Göttingen 2005
gemeinsam mit Hans Medick, Angelika Schaser, Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 20), Köln, Weimar, Wien 2012 http://www.boehlau-verlag.com/978-3-412-20853-0.html