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Festrede von Herta Müller: „Freiheit steht nicht still“

Anlässlich des 70-jährigen Jubiläums der Freien Universität Berlin sprach die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller bei der Festveranstaltung am 4. Dezember 2018 über Freiheit.

News vom 01.01.2019

          Ich lebe heute so lange in der Freiheit, wie ich davor in der Diktatur gelebt habe. Aber immer noch messe ich die Freiheit von heute an dem, was ich aus der Diktatur von damals weiß. Nicht umgekehrt die Diktatur an dem, was ich in der Freiheit erlebe.

          Es ist mir bis heute nicht gelungen, Freiheit als selbstverständlich anzusehen. Freiheit steht nicht still. Sie kann auch wieder gehen. […]

          Ich habe das damals nicht gewusst, es war die Frage nach persönlicher Freiheit. Aus der Distanz von heute glaube ich, dass es in der Unterdrückung eine zerstörerische Fixation auf das Gegenteil gibt, auf die Freiheit, die nicht gelebt werden kann. Sie ist als Abwesenheit vorhanden, sie weiß, dass sie verkrüppelt wird. Sie wird so gestört, dass sie dort, wo sie beginnt, sofort aufhört. Das Ende frisst den Anfang vom ersten Moment an. Da sie jedoch immer, wenn auch nur als Gegenteil von sich selbst vorhanden bleibt, ist sie im Kopf mehr als bloße Projektion. Sie ist kein stummes Kopfbild, sondern ein furchtbar genaues Gefühl. Gefühl ist das passende Wort. Denn Gefühle sind ja im Kopf. Jedenfalls entstehen sie im Kopf. Dass einem die Unterdrückung bewusst ist, heißt, dass einem das Fehlen der Freiheit bewusst ist. Es ist dieses fatale Zwillingspaar, das durchs Leben läuft. Es ist so ein Paar, wie chronischer Hunger immer ans fehlende Essen denkt.

          Ich muss es mir heute eingestehen: Das meiste, was ich über Freiheit gelernt habe, habe ich aus den Mechanismen der Unterdrückung gelernt. Diese Mechanismen zu beobachten, und was anderes bleibt einem ja in der Unterdrückung nicht übrig, ist wie die Spiegelschrift der Freiheit zu entziffern. Das Deutlichste, was ich gelernt habe, kann ich ganz einfach sagen:

          Freiheit ist immer konkret. Sie ist da oder sie fehlt in jeder einzelnen Sache. Allgemein kann ich über Freiheit gar nicht reden. Es führt mich nirgends hin, wenn ich es versuche. Das abstrakte Wort Freiheit beschäftigte mich nicht als Idee, sondern als Gegenstand. Ein ganz konkreter Gegenstand. Denn Freiheit hat ihren konkreten Ort, an dem sie vorhanden ist oder fehlt. Sie hat ihren Inhalt, ihr Gewicht. In der Freiheit ist immer eine konkrete Situation. Es findet etwas statt, oder es ist wird verhindert. Diese beiden Kategorien sind immer präsent: erlaubt und verboten. In der Diktatur war fast alles, was ich tun wollte, verboten. Und was erlaubt war, hab ich mir selbst verboten, weil ich nicht so werden wollte wie diejenigen, die es mir erlaubten. Die Freiheit ist ein Gegenstand. Aber in diesem Leben in Rumänien war sie so weit weg, man konnte sie nicht anfassen. Umso mehr fasste sie mich an.

          Das war der Grund, weshalb ich in allen Situationen, wo es darauf ankam, in unvermeidliche Konflikte geriet. Wo es darauf ankam – es kam ständig darauf an. […]

Die vollständige Rede von Herta Müller, die sie bei der Festveranstaltung am 4. Dezember 2018 vortrug, ist hier in der Tagesspiegel-Beilage zu lesen.

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