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Vertraute Fremde

Viele Menschen teilen ihre Erinnerungen an ihr Studium im Rahmen der Aktion „Gesichter der Freien Universität“. Ein Gesicht der Universität ist Emilija Gagrčin

04.06.2018

Emilija Gagrčin arbeitet als Referentin für Schülerförderung im Programm Studienkompass der Stiftung der Deutschen Wirtschaft.

Emilija Gagrčin arbeitet als Referentin für Schülerförderung im Programm Studienkompass der Stiftung der Deutschen Wirtschaft.
Bildquelle: Miriam Klingl

Die Zahl ihrer internationalen Studierenden veröffentlicht jede Universität gerne. Wenn der gute Ruf bis ins Ausland dringt, ist das ein Grund zur Freude. Doch für die ausländischen Studierenden ist das Ankommen an einer deutschen Universität oft schwierig, sagt Emilija Gagrčin. Sie kam 2011 aus Serbien nach Berlin. Nicht als Erasmus-Studentin, sondern als reguläre „Ersti“ an der Freien Universität. Zunächst machte sie ihren Bachelor in Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Politik, arbeitete nebenbei als Studentische Hilfskraft und engagierte sich im AStA für die Interessen internationaler Studierender. 2013 verlieh ihr der Deutsche Akademische Austauschdienst den Preis für hervorragende Leistungen ausländischer Studierender an den deutschen Hochschulen. Im Mai 2017 schloss Emilija Gagrčin ihr Studium mit dem Master in Politischer Kommunikation ab.

Auf den ersten Blick ist sie also eine Musterstudentin. Doch mit ihrem Weg sind mehr Unsicherheiten verbunden, mehr Selbstzweifel und Zeiten der Orientierungslosigkeit als man der fröhlichen 25-Jährigen anmerkt. „Ich war sehr gerne an der Freien Universität und ich liebäugele auch mit einer Promotion“, sagt sie, „aber lange war ich völlig überfordert – auf so vielen Ebenen.“ Ihre Erfahrung sei typisch, sagt sie. Nicht nur für ausländische Studierende, sondern auch für Studienanfänger, die wie sie aus einer Familie von Nicht-Akademikern stammten. Die Freie Universität sei vorbildlich, was die Vielfalt an Hilfen angehe, zur Studienorientierung, bei Studienproblemen und für den Studienabschluss. Aber wer als kompletter Neuling mit dem deutschen Bildungssystem und der universitären Kultur konfrontiert sei, müsse so viele andere Herausforderungen bewältigen, dass er erst am Ende des Studiums begreife, welche Hilfen es gegeben hätte. Rückblickend sagt sie: „Mir hätte vielleicht eine Art verpflichtender ‚Integrationskurs‘ im ersten Semester geholfen. So etwas wie Ankommen in Berlin und an der FU“.

Selbst banale Fragen erschienen ihr anfangs unlösbar, zum Beispiel: Wie schließt man eigentlich an einer deutschen Uni Freundschaften? Aus dieser Erfahrung hat Emilija Gagrčin ihren Beruf gemacht. Sie arbeitet heute als Referentin für Schülerförderung im Programm Studienkompass der Stiftung der Deutschen Wirtschaft. Das Programm bietet Schülerinnen und Schülern, deren Eltern keine Akademiker sind, eine ideelle Förderung. Das heißt Begleitung und Coaching in den letzten zwei Jahren vor dem Abitur und im ersten Studienjahr. „Was mir an der Uni gefehlt hat, bieten wir unseren Studierenden an. Insofern ist das wirklich ein Traumjob“, sagt Emilija Gagrčin. Darüber hinaus engagiert sie sich für Initiativen, die den europäischen Gedanken und den internationalen Austausch fördern: Sie arbeitet als Trainerin für den Freiwilligendienst „kulturweit“ der deutschen UNESCO-Kommis-sion, betreut interkulturelle Begegnungen für die Jugend- Austausch-Organisation AFS und für die Europäische Föderation für interkulturelles Lernen EFIL. Ehrenamtliches Engagement gehört zu Emilija Gagrčin Leben. Schon als Grundschülerin war sie in ihrer Heimatstadt Sombor, im Nordwesten Serbiens, in der Grünen Jugend. „Meine Großeltern waren überzeugte Kommunisten. Als ich klein war, haben sie mir stolz von ihren Arbeitseinsätzen erzählt, als sie Straßen oder Autobahnen gebaut haben. Und sie haben immer gesagt: ‚Man muss einen Traum haben, in welcher Gesellschaft man leben möchte – und dann muss man mitmachen.‘“ Mittlerweile habe sie sich intensiv mit dem jugoslawischen Sozialismus auseinandergesetzt und wisse, dass nicht jeder so freiwillig mitgemacht hat wie ihre Großeltern. „Aber es ist ihr gutes Recht, das so positiv zu erinnern und sie haben mich damit inspiriert.“

„Dass ich mich für Deutschland interessiere, habe ich der Teenie-Band Tokio-Hotel aus Magdeburg zu verdanken“

„Dass ich mich für Deutschland interessiere, habe ich der Teenie-Band Tokio-Hotel aus Magdeburg zu verdanken“
Bildquelle: Miriam Klingl

Dass Emilija Gagrčin sich heute nicht in Serbien, sondern ausgerechnet in Deutschland gesellschaftlich engagiert, ist einer Teenie-Band aus Magdeburg zu verdanken. „Als Jugendliche habe ich Tokio Hotel für mich entdeckt“, erzählt sie schmunzelnd. Damit nahm ihre Begeisterung für die deutsche Sprache ihren Anfang. „Damals war es in Serbien noch sehr teuer, ins Internet zu gehen. Aber in meinem Heimatort konnte man die deutsche ‚Bravo‘ kaufen“, sagt sie. Ihr Opa finanzierte also jeden Freitag eine „Bravo“, zum Geburtstag bekam Gagrčin ein deutsches Wörterbuch, und von da an war sie so etwas wie die inoffizielle Tokio-Hotel-Dolmetscherin für Serbien. „Ich habe meine Übersetzungen in Internet-Foren gestellt, damit auch meine Freundinnen die Texte verstehen können.“

Die Anekdote erzählt sie oft, sagt sie. Vielleicht, weil viele Menschen fragen, warum sie so perfekt deutsch spricht. Vielleicht auch, weil diese Anekdote zwei ihrer Charaktereigenschaften ganz gut illustriert: Emilija Gagrčin teilt ihr Wissen gerne. Und wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, zieht sie es durch. Sie wollte Deutsch lernen, richtig. Also wechselte sie an ein Gymnasium mit einem Schwerpunkt in modernen Fremdsprachen, zwei Autostunden von ihrer Heimatstadt entfernt. In der elften Klasse ging sie dann für ein Austauschjahr in den Schwarzwald. Das war allerdings teilweise kontraproduktiv, erinnert sie sich lachend: „Danach habe ich badische Wörter benutzt und dachte, das sei Hochdeutsch.“ Im „Ländle“ habe sie eigentlich auch studieren wollen, aber die Studiengebühren von damals 600 Euro pro Semester hätte sie niemals aufbringen können.

Ihre Entscheidung, stattdessen nach Berlin zu gehen, hat sie nicht bereut. Allerdings verzweifelte sie hier manchmal an ihren deutschen Kommilitoninnen und Kommilitonen. „Ich habe gemerkt, dass es Grüppchen gab, die eine Zusammenarbeit mit ausländischen Studis bewusst gemieden haben.“ Heute kennt sie die Zahlen zu ihrem Gefühl: Der McKinsey Hochschulbildungsreport mit Schwerpunkt auf internationaler Bildung aus dem Jahr 2015 stellte fest, dass rund 40 Prozent der deutschen Studierenden keinen Kontakt mit den ausländischen haben. Oft schwieg Emilija Gagrčin in Seminaren. Aus Angst, ihre Gedanken nicht korrekt zum Ausdruck bringen zu können, für dümmer als ein deutscher Muttersprachler gehalten zu werden. „Wissenschaftliches Deutsch ist ja nicht nur wegen der Vokabeln schwierig, sondern auch, weil es Wissen über die deutsche Geschichte und das deutsche System voraussetzt. Und das ist für jemanden, der woanders in der Schule war, am Anfang schwer nachzuholen.“

Sie selbst machte sich irgendwann frei von diesen Sorgen, hat heute auch einen großen deutschen Freundeskreis und unterstützt deutsche Jugendliche. „Ich habe ein Verantwortungsgefühl für die deutsche Gesellschaft entwickelt, und ich habe Lust, mich hier zu engagieren. Aber das ist nicht selbstverständlich.“ Emilija Gagrčin zitiert noch einmal aus dem McKinsey-Report, laut dem mehr als die Hälfte der internationalen Studierenden nach ihrem Abschluss Deutschland verlässt. Sie glaubt, dass viele auch nach Jahren an deutschen Universitäten noch eine gewisse Distanz verspürten, – was schade sei, denn gerade Universitäten seien gute Orte, um eine Gesellschaft kennenzulernen. Emilija Gagrčin sagt: „Ich fände es schön, wenn es den Universitäten gelänge, ausländische Studierende noch besser zu integrieren. Denn nur, wenn du vom Leben hier begeistert und aktiv an der Gesellschaft teilnimmst, bleibst du auch hier.“



Gesichter der Freien Universität Berlin

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