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Emotionen begreifen

In Dahlem erörterten Wissenschaftler die Bildung von Gefühlen und deren Wandel in der Geschichte

18.12.2010

Ein zusammengerolltes Paar Strümpfe: Für den Philosophen, Übersetzer und Literaturkritiker Walter Benjamin war es diese Entdeckung in der elterlichen Kommode, die zur Bildung seiner Gefühle beitrug. Mehr noch: In seinem autobiografischen Werk „Berliner Kindheit um 1900“ begreift Benjamin das spielerische Entrollen des Strumpfballs als Vorgriff auf die eigene spätere Philosophie, in der „Form und Inhalt, Hülle und Verhülltes dasselbe sind“. An diesem Beispiel erläuterte der Hamburger Erziehungswissenschaftler Arnd Michael Nohl auf einer Tagung Anfang Dezember an der Freien Universität, wie Emotionen auch vom taktilen Erleben und dem Spiel mit Objekten geprägt werden.

So, wie Menschen in eine Kultur, eine Sprache oder ein bestimmtes Umfeld hineinwachsen, wachsen sie auch in eine bestimmte Gefühlswelt hinein. Das Empfinden und der Ausdruck von Zorn etwa hängen zu einem großen Maße von der Sozialisierung des Einzelnen ab und können historisch, kulturell sowie geschlechtsspezifisch ausgesprochen unterschiedlich sein. Doch wie verlaufen solche emotionalen Bildungsprozesse? Mit dieser Frage befassten sich Historiker, Soziologen und Erziehungswissenschaftler während der Tagung „Die Bildung der Gefühle“. Ausgerichtet wurde sie von Professorin Ute Frevert vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Professor Christoph Wulf vom Exzellenzcluster „Languages of Emotion“ der Freien Universität.

Im ausgehenden 18. Jahrhundert herrschte das Bildungsideal der „schönen Seele“ vor. Es wurde ganzheitlich verstanden: als eine Verbindung von Gefühl und Verstand zu einem organischen Ganzen. Seitdem hätten sich drei unterschiedliche Arten der Gefühlsbildung entwickelt, die für die Gegenwart bestimmend seien, wie die israelische Kultursoziologin Eva Illouz in ihrem Vortrag beschrieb: Zum einen gebe es die objektzentrierten Gefühle, deren Erleben oftmals an bestimmte Dinge geknüpft sei. So verbänden noch immer viele Menschen Kerzen, Musik und gedämpftes Licht mit romantischen Gefühlen. Zum anderen verlaufe die Bildung der Gefühle heute zum großen Teil vermittelt: über Gedichte, Romane, Filme und andere Medien. Emotionen schlössen etwa an das im Kino Erlebte an, wodurch die fremden Worte und Gesten dem eigenen unklaren Empfinden eine Ausdrucksform gäben. Ein dritter Aspekt liege im heute üblichen Reden über Emotionen: Beziehungs-Ratgeber hielten nicht mehr Verhaltens- oder Benimmregeln bereit, sondern regelten die Gefühle gleich selbst: indem sie nahelegten, bestimmte Emotionen gar nicht mehr zu empfinden – wie maßlose Liebe oder Zuneigung, wenn sie nicht erwidert wird.

Für viele junge Menschen ist inzwischen das Internet zum Ort der Gefühlsbildung geworden: Durch Online-Spiele und deren virtuelle Welten würden sie auf eine Art emotional sozialisiert, die mit der Wirklichkeit nichts gemein habe, sagte der Magdeburger Erziehungswissenschaftler Benjamin Jörissen: Die Emotionen des Spielers seien nur gebrochen und stark reduziert in die virtuelle Welt übertragbar. Auch bei lebensecht gestalteten Avataren – virtuellen Stellvertretern der Spieler – fehlten das Feedback und die Spiegelungsprozesse, die emotionales Lernen sonst kennzeichneten.

Es bleibt dabei: Beziehungen zwischen Menschen bieten den grundsätzlichen Rahmen, in dem sich Gefühle bilden und ausbilden können. Das Verhalten von Geschwistern untereinander etwa oder die Emotionen, die das Miteinander innerhalb einer sogenannten Peergroup oder Clique bestimmten, sind oftmals für das Fühlen und Empfinden im weiteren Leben prägend.