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Mathematik des Sozialen

Von Michael Brückner

Der 98. Workshop der Dahlem Konferenzen verbindet Mathematik mit Sozialwissenschaften und fragt: „Gibt es eine Mathematik sozialer Phänomene?“ Aktueller könnten die Fragen kaum sein, denen Mathematiker und Sozialwissenschaftler gemeinsam während der nächsten Dahlem-Konferenz eine ganze Woche lang nachgehen werden: Welche Anreize beeinflussen das Verhalten auf Finanzmärkten? Wie entstehen Herdeneffekte dort, und wie könnte man deren Wirkung begrenzen? Wie entstehen soziale Konventionen? Warum und wie setzen diese sich durch?

Solche Fragen verbindet man im Alltag nicht unbedingt mit Mathematik. In der Forschung wird aber schon lange mit mathematischen Modellen gearbeitet, um Voraussetzungen für Entscheidungen und die Strukturen menschlichen Verhaltens zu verstehen und in Modellen nachzubilden. Ist es also möglich „auszurechnen“, was kommen könnte? „Zumindest abschätzen, was plausibel ist und was nicht“, das sei schon jetzt zum Teil möglich, sagt Carlo Jaeger, Professor am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und einer der wissenschaftlichen Leiter dieser Dahlem-Konferenz.

Dass man menschliches Verhalten und damit gesellschaftliche Veränderungen exakt vorausberechnen könne, würden weder Mathematiker noch Sozialwissenschaftler behaupten. Doch ganz praktisch werden zum Beispiel die zu erwartenden Fußgängerströme in Großflughäfen oder Stadien vorausberechnet. Aus den USA kommen spannende Forschungen über das Verhältnis zwischen der Länge der Gefängnisaufenthalte und der Rückfallquote von Straffälligen nach Ende der Inhaftierung. Für europäische Beobachter wird dieser Zusammenhang bisweilen erstaunlich konkret diskutiert und in der politischen Diskussion eingesetzt – als gäbe es Formeln, mit deren Hilfe man die „richtige“ Strafverfolgungspolitik ausrechnen könnte. Einige der führenden Experten auf diesem Gebiet werden an der diesjährigen Dahlem-Konferenz teilnehmen.

„Bei der Verbindung von Mathematik und Sozialwissenschaften stehen wir erst am Anfang“, betont Carlo Jaeger, der zusammen mit Professor Rupert Klein von der Freien Universität Berlin diese Konferenz organisiert. Denn wie sehr zum Beispiel Ökonomen mit ihren Modellen falsch liegen können, ist derzeit an der Krise der Finanzmärkte zu sehen. Offenbar sind in die vorhandenen Modelle entscheidende Parameter nicht eingeflossen.

„Mathematik ist eben auch eine Sprache“, sagt Rupert Klein, Professor für numerische Strömungsmechanik an der Freien Universität Berlin und Träger des Leibnizpreises. Wie jede Sprache sich weiterentwickelt und neue Phänomene oder Erfindungen neue Wortschöpfungen oder Sprachbilder entstehen lassen, so entwickelt sich auch die Mathematik mit den Aufgaben weiter. So wären ohne die enge Verbindung von Mathematik und Physik in den vergangen 300 Jahren beide Disziplinen nicht das geworden, was sie heute sind. Mit den immer neuen Fragen sind die Methoden und Möglichkeiten mathematischer Formalisierung enorm gestiegen. So könnte auch die Mathematik in der Auseinandersetzung und der Verbindung mit den Sozialwissenschaften in neue Bereiche vorstoßen. Das ist Grundlagenforschung im besten Sinn.

Der 98. Dahlem-Workshop findet vom 14. bis 19. Dezember 2008 an der Freien Universität Berlin statt.