Ein Quantum Chemie
Aufstrebender Wissenschaftler: Frank Neese erhielt ein Preisgeld von 100000 Euro.
Bildquelle: Jan Hambura
Mit dem Programmpaket ORCA ermöglicht Frank Neese die Berechnung von Molekülstrukturen – dafür erhielt er den Klung-Wilhelmy-Weberbank-Preis für Chemie 2008
Von Matthias Manych
„Die Natur ist der beste aller denkbaren Chemiker“, sagt Frank Neese. Sie ermöglicht Reaktionen wie Photosynthese oder Stickstofffixierung bei Raumtemperatur und normalem Luftdruck mit höchster Wirksamkeit und Schnelligkeit. Von der biologischen Effizienz können Wissenschaftler bislang nur träumen. Eine Photosynthese im Labor ist noch Zukunftsmusik und die unter anderem für Düngemittel wichtige Ammoniakherstellung mit dem Haber-Bosch-Verfahren ein wahrer Energiefresser.
Heute können die Start- und Endpunkte biochemischer Reaktionen mit der Röntgenkristallografie häufig im atomaren Detail bestimmt werden, nicht aber die wichtigen Zwischenschritte. Dafür stehen im Extremfall nur wenige Femtosekunden, also der Millionste Teil einer Milliardstel Sekunde zur Verfügung. Die Zeit reicht bestenfalls für unscharfe Bilder der an den Reaktionen beteiligten chemischen Strukturen, der gesamte Reaktionsablauf lässt sich damit nicht aufklären.
Frank Neese hat ein Softwarepaket entwickelt und den Namen ORCA gegeben, mit dem der Aufbau beliebiger Moleküle verändert werden kann. Auf diese Weise können die strukturellen Eigenschaften einzelner Moleküle, die zum Beispiel als Zwischenprodukte biologischer Reaktionen entstehen oder deren zentrale Schaltstelle sind, vorausberechnet werden. „Wir können jetzt Vorschläge dafür machen, wie die Realität aussehen könnte und berechnen, wie weit sie der Realität nahe kommen“, betont Neese. Damit hat der Wissenschaftler ein Instrument entwickelt, das mittlerweile die Arbeit in weltweit Tausenden von Laboren erleichtert. Für seine Forschungsleistungen erhielt der 41-Jährige Professor für theoretische Chemie an der Universität Bonn Mitte November den Klung-Wilhelmy-Weberbank-Preis für Chemie 2008. Die Auszeichnung gehört zu den angesehensten deutschen Forschungspreisen für Nachwuchswissenschaftler und ist mit 100 000 Euro dotiert.
Moleküle sind nur wenige Hunderdstel eines Millionstel Millimeters groß – also einige Hundert Pikometer. In dieser Dimension gelten andere Gesetze, als sie aus der Alltagswelt bekannt sind. Hier bestimmen Atomkerne und ihre Elektronenhülle mit ihren entgegengesetzten elektrischen Ladungen die Eigenschaften eines Moleküls. Es entstehen Bewegungen und Zustände, die ungefähr mit dem Geschehen auf einem Billardtisch verglichen werden können, auf dem alle Kugeln gleichzeitig angestoßen werden. Nur findet das Spiel der Atomkerne und Elektronen nach den Gesetzen der Quantenmechanik und in drei Dimensionen statt. Um nun Moleküleigenschaften vorhersagen zu können, musste sich der Biologe Neese also in die Quantentheorie einarbeiten. Hinzu kamen noch die nötige Mathematik und die für die Entwicklung des Computerprogramms fortgeschrittenen Konzepte der Informatik. Nachdem die Software stand, strafften Neese und seine Kollegen das Programm entscheidend und verkürzten die Rechenzeiten von zum Teil Monaten auf wenige Stunden. Herausgekommen ist ein Programmpaket, das etwa eine Million Zeilen auf 15 000 Seiten füllen würde. Zwar können damit schon auf einem aktuellen Laptop Berechnungen laufen, und auch Neeses Arbeitsgruppe benutzt handelsübliche Computer. Doch sie sind zu Hunderten in einem Netzwerk verbunden.
ORCA kann nun mit Daten gefüttert werden, die beispielsweise aus Röntgenstrukturanalysen von Molekülen stammen. Mit den berechneten Ergebnissen können die Molekülstrukturen bis zu den einzelnen Elektronen und damit im Idealfall sogar die biochemischen Eigenschaften bestimmt werden. Ein weiterer Fortschritt besteht in der Möglichkeit, am Computer Moleküle zu konstruieren und sie mit dem Programm zu testen. So entwirft Neese mit seinen Kollegen in Bonn quasi auf dem Reißbrett Katalysatoren, berechnet sie mit ORCA, und die besten Kandidaten werden dann im Labor synthetisiert und auf ihre Wirksamkeit hin untersucht. Damit können Experimente wesentlich gezielter geplant und schneller zum Ziel geführt werden.
Frank Neese ist von seinem Fach begeistert: „Das Zukunftspotenzial der theoretischen Chemie ist riesig, es reicht von den Materialwissenschaften bis zur Medizin.“ Wenn es etwa gelänge, einen magnetischen Schalter für einzelne Moleküle zu entwickeln, wären der Bau eines Quanten-Computers oder extrem kompakte Speichermedien möglich. Die theoretische Chemie erleichtert auch die Suche nach neuen Arzneimittelkandidaten oder das Verständnis der Wirkungsweise von Vitaminen und Spurenelementen. Werkzeuge wie das Programmpaket ORCA können helfen, drängende Zukunftsfragen wie Energieversorgung und Ernährungsprobleme zu lösen. Allein der Ersatz des Haber-Bosch-Verfahrens durch eine neuartige Stickstofffixierung könnte den weltweiten Energieverbrauch drastisch senken. Und eine künstliche Photosynthese, mit der einfach Wasser zu Sauerstoff und Wasserstoff gespaltet werden könnte, würde die umweltschonende Brennstoffzellentechnologie beflügeln.
Auf die Frage nach der Bedeutung des Namens ORCA erklärt der frisch gekürte Preisträger lachend, dass es sich nicht um ein kompliziertes Akronym handelt. Vielmehr wollte er einen kurzen, aber stark klingenden Namen haben. Die Idee dazu kam an der Kalifornischen Küste beim Beobachten von Walen.
Seine Laufbahn begann Frank Neese in Konstanz, wo er zunächst in Biologie promovierte. Mitentscheidend für seinen weiteren Weg war ein dreijähriger Forschungsaufenthalt an der Stanford-Universität in den USA. 2001 habilitierte sich Neese für Bioanorganische und theoretische Chemie und leitete von 2001 bis 2006 eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Bioanorganische Chemie in Mülheim. Im März 2006 nahm er schließlich einen Ruf an die Universität Bonn auf den Lehrstuhl für Theoretische Chemie an. Dass er zehn Jahre sein quantenchemisches Programmpaket entwickeln konnte, verdanke er dem deutschen Wissenschaftssystem, da hierzulande Grundlagenforschung über längere Zeit gefördert werde. Vor allem deshalb sei es für ihn viel interessanter, in Deutschland Professor zu sein als beispielsweise in den USA, sagt Neese: „In meinem Bereich, theoretische Chemie, ist die Forschung in Deutschland deutlich stärker als in den USA, das liegt an unserer Forschungsförderung.“
Der Vorsitzende der Auswahlkommission des Klung-Wilhelmy-Weberbank Preises für Chemie, Professor Hans-Ulrich Reißig vom Institut für Chemie und Biochemie der Freien Universität Berlin, betont, Frank Neese habe in den letzten zehn Jahren fundamentale Beiträge für sein Fach geleistet. Im Vorschlagsgutachten für den diesjährigen Preis hieß es: „Dr. Neese ist zweifellos der aktivste und kreativste Chemiker seiner Generation in Deutschland“. Die Entscheidung für den Preisträger fiel deshalb nicht schwer.