Struktur und Identität
Das Präsidium der Freien Universität Berlin hat seinen Sitz in einem Gebäude aus den 1920er Jahren.
Bildquelle: Reinhard Görner
Das Hörsaalgebäude Henry-Ford-Bau nimmt Pathosformeln der Moderne auf.
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Das Institut für Philosophie residiert in einem Neubau, der Züge einer „Dahlemer Villa“ trägt.
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Zur Architektur der Freien Universität Berlin
Von Gerwin Zohlen
Naturgemäß gibt es auch in der Architektur Generationswechsel, nur dass sie hier langwierig, gleichsam schleichend vonstatten gehen. Das liegt in der Natur der Sache. Ein Haus wird – besser: sollte nicht – hoppladihopp hingestellt werden wie etwa ein Buch gekauft werden kann. Trotz Beschleunigung unserer Lebensverhältnisse eignet Architektur noch stets der Charakter der „longue durée“, der Dauerhaftigkeit, selbst wenn sie oft erfolgreich verborgen wird. Gewiss, die „longue durée“ der Historiker meint vornehmlich die mentalitätsgeschichtliche Grundwoge der Zeiten und nicht den ästhetischen oder materialen Charakter der Erscheinungen. Doch auch in der Architektur gibt es manche Moden, über die man sich später wundert.
Die Freie Universität in Dahlem, architektonisch betrachtet, eignet sich vortrefflich zum Nachdenken über derlei Verhältnisse. Ein homogenes Gebäudebild wie die alten und ältesten Universitäten Deutschlands kann und will sie nicht bieten. Sie versucht im Gegenteil gerade aus dem Patchwork ihrer Bau- und Entstehungsgeschichte den symbolischen Gewinn der offenen, und das heißt im Subtext immer auch der demokratisch-pluralistischen, Universität zu ziehen. Heute versammelt sie auf ihrem Gelände so gut wie alle Erfolge sowie Irrungen und Wirrungen des seltsamen 20. Jahrhunderts, das auch in der Architektur offensichtlich nur ein „kurzes“ war und nach seinem Ende in vielem zurück zu seinen Anfängen strebt. Gelegentlich stößt einem schon der Seufzer auf, den Dolf Sternberger einst „jenem 19. Jahrhundert“ gewidmet hatte, dass ihm doch endlich „Gerechtigkeit“ widerfahren möge.
Bedenkt man beispielsweise die inneren Parameter der Hausgeneration der 1960er Jahre, so springt deren Wunsch nach Serialität, Entindividualisierung und transparentem Maschinenwesen ins Auge. Das trifft für das berühmte OSI, das Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft ebenso zu wie für das Osteuropa-Institut (Ihnestraße und Garystraße). Beide wurden zwar als Ausgangsorte studentischer Proteste bekannt, sind architektonisch aber eher bescheiden und werden auch nur als aus der „Verwaltung des Bausenats“ stammend, nicht mit namentlicher Urheberschaft geführt. Architektonisch stärker ausgeprägt tritt der Charakter bei den Instituten für Pflanzenphysiologie und Mikrobiologie (Königin-Luise-Straße, 1971) sowie dem der Veterinärmedizin (Koserstraße, 1968) auf, in dem heute das Friedrich-Meinecke-Institut und das Kunsthistorische Seminar untergekommen sind. Beide stammen aus der Hand Wassili Luckhardts, des Altmeisters der Bauhaus-Tradition, in deren Kern die Industrialisierung der Architektur und also die serielle Wiederholung Regie führte.
Für die Zeitgenossen lag darin der höhere Grad der Modernität als etwa beim Henry-Ford-Bau (Sobotka/Müller, 1954). Dessen steinernes und baukörperlich dezidiertes Auftreten mit Pathosformeln wie Ehrenhof, Tempelfront (Pfeilerreihe) und symbolträchtig nach Osten gebogener Natursteinwand erschien ihnen konservativ und also verdächtig. Die fast zeitgleiche Mensa I (Fehling/Pfankuch, 1952) und die Juristische wie die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät (Geber/Risse, 1957) kamen den Idealen entschieden näher als der Henry-Ford-Bau, weil sie den „Amerikanismus“ des in Europa noch neuen Bungalow-Typs mit der Serialität eines Verwaltungsbaus aus gleichen Raumzellen zu verbinden wussten. Für das geschulte Auge ist bei der Mensa I interessant, wie hier das erzene Modernethema „Entlastung der Wand“ (von Stützfunktionen) durch die plastische Gestaltung des Treppenhauses fast zelebriert wird.
Am Entwurf und baulichen Veränderungsschicksal der Rost- und Silberlaube (1972/1978 und 1980) jedoch, dem größten Gebäude jener Jahre, lässt sich die architektonische Generationsfolge konzentriert ablesen. Heute wird sie oftmals als das vermisste oder mangelnde Hauptgebäude der Freien Universität angesehen. Aber gefeiert wurde der Entwurf damals wegen seiner strukturalistischen Utopie, in der sich Ortlosigkeit und identitätslose Gleichheit vermählten. Als horizontale Teppichstruktur unterschiedsloser Raummodule hätte der Bau von Warschau nach Paris oder auch bloß von Wilmersdorf bis Potsdam reichen können; geträumt hatten das die Architekten Candilis/Josic/Woods und Schiedhelm. Der fallible Fortschrittsglaube bei der Wahl des Fassadenmaterials Corten-Stahl führte zu einer schier unendlichen Folge von Schäden und Reparaturen, mithin Kosten. Erst der radikalen Umkehr des Entwurfsparameters einer identitätslosen Struktur gelang eine hinlänglich zweckmäßige Gebrauchbarkeit des Gebäudes. Nur durch die Implementierung der extrem identifizierten und individuellen „Signature-Architecture“ der Philologischen Bibliothek von Lord Norman Foster (2005) konnte das utopische Schema der ortlosen Gleichheit aufgebrochen und konterkariert werden. Zum Glück. Im Dämmerlicht der metapherngenerierten Bibliothek (The Brain) haben Geist und Nachdenken nun wieder einen architektonischen Ort.
Ist es nur der Pendelschlag der Zeiten, dass heute konträr zur Utopie der architektonischen Moderne wieder die „älteren“ Bauwerke wie Straumers vorzügliches Feuersozietäts-Haus (1926, Präsidium) oder gar die noch älteren Gebäude der wissenschaftsgeschichtlich so bedeutenden Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (Otto-Hahn-Bau, von Ihne/Guth, 1912) geschätzt und bevorzugt werden? Weil sie örtliche Identität und eine Gestaltung aufweisen, die weder auf den offensiven Bruch mit der Vergangenheit noch auf die „Neuerfindung“ der Architektur insgesamt abzielt? Stattdessen mal besser, mal durchschnittlicher im Strom des „Weiterbauens“ verharrt?
Gleichviel. Der alles liebende Denkmalschutz umarmt sie alle, aus welcher Generation sie auch stammen, und lernt dabei selbst Kreativität – wie an der Rost- und Silberlaube zu studieren. Architektonisch paart sich in Dahlem krude Utopie mit Solidität, strukturelle Entindividualisierung trifft auf markante Identität, die einst avantgardistische Transparenz darf ebenso auftreten wie der postmoderne Neobarock, der hier seine philosophischen Zacken errichtet hat (Baller, 1981). Und die allerüblichste Mediokrität rutscht auch allenthalben an den Augen vorbei.
Die Institute der Freien Universität bleiben glücklich vom Grün der öffentlichen Parks und privaten Gärten umsäumt. Schon per definitionem widersetzen die sich allem Einheitszwang – ein freier Campus für die Freie Universität.
Der Autor ist Architekturkritiker und Alumnus der Freien Universität Berlin.