Pionier der Präzision
Karl Weierstraß und die moderne Mathematik
Von Ehrhard Behrends
Die moderne Mathematik beginnt im 17. Jahrhundert mit Newton und Leibniz, denen wir den Grenzwertbegriff und die neuen Möglichkeiten für das Studium von Funktionen verdanken. Sie benötigten allerdings Begriffe, die von den Kritikern ihrer Zeit zu Recht als ziemlich dubios bezeichnet wurden. Denn was sollte ein unendlich kleines Dreieck sein, wie Leibniz es beschrieb? Und wie sollte man sich Newton folgend einen Quotienten – etwa Weg durch Zeit – im Augenblick des Verschwindens des Nenners vorstellen? Für die Genialeren unter den Mathematikern war das kein Hinderungsgrund, immer neue Theorien zu entwickeln, doch das wackelige Fundament wurde als unbefriedigend empfunden. Erst im 19. Jahrhundert kam es zu einer Klärung, und das Verdienst wird überwiegend Augustin Louis Cauchy aus Frankreich und Karl Weierstraß aus Berlin zugeschrieben.
Weierstraß lebte von 1815 bis 1897. Als Kind kam er viel in Deutschland herum, denn sein Vater war Steuerinspektor, und die Familie musste oft umziehen. Seine Studien in Bonn – offiziell war er in Jura und Ökonomie eingeschrieben – gingen nicht recht voran, denn er beschäftigte sich viel lieber mit Mathematik, als im Hörsaal zu sitzen. Die Mitgliedschaft in einer schlagenden Verbindung führte dazu, dass er wohl mehr Zeit am Biertisch und beim Fechten verbrachte als im Hörsaal. Einen Abschluss machte er schließlich in Münster, damit konnte er eine Anstellung als Lehrer finden. Er begann 1842 an einer Schule in Deutsch Krone in Westpreußen (heute Walcz, Polen) und musste dort alle Fächer unterrichten.
Seine Leidenschaft galt aber der mathematischen Forschung. Er machte sich durch Veröffentlichungen einen Namen, und Mitte der 1850er Jahre wurde ihm eine Professur an der Berliner Universität angeboten. Mit diesem Ruf begann eine Blütezeit der Mathematik in Berlin. Neben Weierstraß lehrten dort unter anderem Kummer und Kronecker. Interessierte Studenten kamen aus aller Welt, und die Liste der Absolventen liest sich wie das Who-is-who der Mathematik am Ende des 19. Jahrhunderts. Erwähnung verdient vor allem die später für ihre Forschungen über Differentialgleichungen berühmte Sofia Kovalevskaja aus Russland: An den Vorlesungen durfte sie nicht teilnehmen, denn Frauen waren damals nicht zugelassen, aber Weierstraß hielt so viel von ihr, dass er ihr Privatunterricht gab.
Revolutionär war die Strenge, mit der Weierstraß die Mathematik von Grund auf entwickelte. Noch heute lernen Studenten in aller Welt auf diese Weise die Fundamente ihres Faches kennen. Durch sein Wirken blieb kein Raum mehr für nebulöse Konzepte rund um den Grenzwertbegriff, auf dem so gut wie alle Theorien über Zahlen und Funktionen aufbauen.
Als Beispiel betrachten wir die Folge der reziproken natürlichen Zahlen: 1, 1/2, 1/3, 1/4. Schon jedem Schüler ist intuitiv klar, dass die Glieder dieser Folge „beliebig klein“ werden. Doch mehrere Jahrhunderte lang drückte man dies durch Formulierungen wie „die Folgenglieder verschwinden im Unendlichen“ oder „sie werden schließlich Null“ aus. Seit Weierstraß geht es präzise. Nicht umsonst trägt ein renommiertes Berliner Forschungsinstitut seinen Namen.
Der Autor ist Professor für Mathematik an der Freien Universität Berlin.