Kino im Kopf: Wie Radioreporter die Bilder zum Spiel erzeugen
Die Reportage aus dem Stadion ist ein ständiger Spagat zwischen sachlicher Information und mitreißendem Stimmungsbericht
Von Stephan Töpper
„Das wär doch was Feines, wenn wir noch einen mitkriegen, aber hier steht es immer noch null zu null, und es sind noch sechs Minuten zu spielen.“ Samstagnachmittag, kurz nach 17 Uhr, der 21. Spieltag der Fußball-Bundesliga läuft. Manfred Breuckmann berichtet live aus der BayArena über das Bundesligaspiel Bayer Leverkusen gegen Schalke 04. Seine Stimme ist ruhig, fast erzählerisch. Dann wird sein Redefluss schneller, die Stimme lauter. „Jetzt Bayer Leverkusen mit Kießling, der versucht, auf die rechte Seite zu passen“ – Breuckmann scheint zu spüren, dass gleich etwas passiert. „Sie setzen sofort wieder nach, Manuel Friedrich, der Innenverteidiger, ist 30 Meter vor dem Tor und maaacht es und maaaacht es!“ Die letzten Worte sekundenlang gedehnt, zum Torschrei gepresst.
Breuckmann, seit 1982 als Hörfunkjournalist beim Westdeutschen Rundfunk, ist eine der markanten Reporterstimmen der Bundesligakonferenz, die von mehr als zehn ARD-Hörfunkwellen samstagnachmittags übertragen wird. Fußball im Radio ist ein spontan inszeniertes Hörspiel, zweimal 45 Minuten plus Nachspielzeit. Anders als im Fernsehen muss der Radioreporter das Bild zu jeder Szene erst erzeugen. In den Köpfen der Hörer. Mit Sprache und Stimme.
Breuckmann moduliert seine Stimme relativ wenig in der Tonhöhe. Da er gleichzeitig sehr rhythmisch spricht, klingen seine Reportagen manchmal wie ein Rap. Das verleiht ihm einen hohen Wiedererkennungswert“, erläutert Privatdozent Volker Gast, Sprachwissenschaftler am Institut für Englische Philologie der Freien Universität Berlin. Die Stimme sei Erkennungsmerkmal eines Radioreporters. Gast unterscheidet vier Arten der Stimm-Modulation: Rhythmus, Tonhöhe, Klangfarbe und Lautstärke.
„Tempowechsel ist wichtig“, sagt Breuckmann. „Man sollte sich davor hüten, während der gesamten Reportage den Lautstärke- und Erregungsgrad auf einem hohen Level zu halten. Man muss einen Spielraum nach oben haben, denn nicht jedes Fußballspiel ist so wie das WM-Finale von 1954.“
Dem Bundesliga-Hörspiel lauschen wöchentlich mehrere Millionen Menschen. Während der Schlusskonferenz berichten sechs Reporter aus sechs Stadien live und ohne koordinierenden Studiomoderator. Fällt in einem Stadion ein Tor, meldet sich der dortige Reporter zu Wort und unterbricht den aktuell Kommentierenden, der seine Reportage beendet und zum Ort des spannenderen Geschehens abgibt. „Er hat’s gesehen, was der Manuel Neuer dort trieb, er stand ein bisschen weit vorne, und dann schlägt der Ball im Eck ein.“
Gast vergleicht die mitunter martialisch-lyrische Reportersprache mit ihren gedehnten Vokalen und schnellen Rhythmuswechseln mit einer musikalischen Improvisation. „Der Reporter verarbeitet das Spielgeschehen spontan zu einem ästhetischen Produkt.“ Die Kunst besteht darin, faktische Informationen ausdrucksvoll darzubieten. Ein ständiger Spagat: den Hörer informieren und gleichzeitig authentische Stimmungen transportieren.
Bildern eilt der Ruf voraus, eine objektive Wahrheit zu besitzen. Im Fernsehen kann sich jeder selbst davon überzeugen, ob der Ball flach oder halbhoch ins Tor geschossen wurde. Der Radioreporter aber muss das Kino im Kopf in Bewegung bringen und dazu Emotionen erzeugen. Der Hörer ist einzig auf die Stimme des Reporters angewiesen.
„Was die emotionalen Aspekte eines Fußballspiels angeht, ist die Radioreportage klar im Vorteil“, sagt Breuckmann. Damit die Emotionen den Hörer auch erreichen und nicht verpuffen, ist Vorwissen notwendig. Wie sieht ein Fußballstadion von innen aus? Wie läuft ein Spiel allgemein ab? „Unser Gehirn kombiniert das Gehörte mit bildlichem Vorwissen aus unserem Gedächtnis. Das Bild zum Ton ist also schon vorhanden und muss nur noch an die aktuelle Spielsituation angepasst werden“, erläutert Professor Michael Niedeggen vom Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität Berlin.
Vorwissen und der Klang der Reporterstimme sind aber nicht alles. Für das Erleben sind auch Geräusche wie das Klatschen oder Jubeln der Zuschauer im Stadion entscheidend. „Im Gehirn gibt es ein separates Zentrum, das Sprachmelodie und atmosphärische Geräusche unabhängig von der Bedeutung verarbeitet“, erklärt Niedeggen.
Kurz nach 17.15 Uhr ist das Bangen vorbei. „Hier ist Schluss, eins zu null für Leverkusen, die Leverkusener sind aus dem Häuschen, Schalke verliert zum zweiten Mal hintereinander, jetzt die letzten Sekunden aus Frankfurt.“ Einen Samstag später wird alles anders und doch gleich sein. Ein neues Hörspiel mit sechs Reportern in sechs Stadien, zweimal 45 Minuten plus Nachspielzeit.