Der Fan, das (un)bekannte Wesen
An der Freien Universität untersuchen Soziologen und Philosophen den Fankult
Von Andrea Puppe
Er hat so gut wie kein Spiel verpasst, und er besitzt einen Stammplatz im Stadion: Ebby Kleinrensing hält dem englischen Zweitligisten Nottingham Forest seit 30 Jahren die Treue. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, lägen zwischen Ebbys Zuhause und dem „City Ground“ nicht 800 Kilometer – denn Ebby wohnt noch immer in Duisburg.
Auf dem Weg ins Stadion muss der 48-Jährige ständig stehen bleiben und Hände schütteln. Die englischen Fans wählten ihn sogar zum Fan des Jahrhunderts, ausgerechnet ihn, den Deutschen. Sein Handabdruck wurde in Bronze gegossen und steht in der „Hall of Fame“ des englischen Fußballs.
Auf der Tribüne von Nottingham hat er seinen eigenen Sitzplatz, wenn er da ist, erkennt man das an seinem acht Meter langen Banner, das er am Zaun des Stadions aufhängt. 18 000 Euro lässt sich Ebby seine Leidenschaft jährlich kosten, weit mehr als 750 Spiele seiner Mannschaft hat er in 30 Ländern gesehen, über 600 Mal ist er schon nach England geflogen – meist freitags hin, sonntags zurück.
So vernarrt wie Ebby ist kaum ein anderer Fan. Dennoch pilgern Jahr für Jahr Tausende von Jugendlichen, Männern und Frauen ins Stadion, für die ein Leben ohne Fußball nicht denkbar wäre.
Aber wer ist dieser Fan, der Woche für Woche sein Trikot in den Vereinsfarben überstreift und sich pünktlich zum Spiel auf den Weg ins Stadion macht? Wie alt ist er? Wie gebildet? Wie viel Geld investiert er dafür, Fan zu sein? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Soziologe Mike Schäfer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin. Gemeinsam mit seinem Kollegen Jochen Roose befragte er in großem Stil Fans. Allein 6000 Fragebögen wurden seit 2004 auf der Seite www.fanforschung.de online beantwortet. Mit 50 qualitativen Interviews untersuchten die Soziologen die Hintergründe des Fandaseins genauer.
Neben Sportfans konnten auch Musik- oder Autofans ihr Votum abgeben. So können die Wissenschaftler verschiedene Fanszenen vergleichen. „Der Fußballfan unterscheidet sich vom Popmusikfan zum Beispiel durch sein Alter“, sagt Schäfer. Im Durchschnitt seien Sportfans älter als die Anhänger einer Musikgruppe. Und im Gegensatz zu den Verehrern von Popgrößen hielten sie ihrem Verein nicht selten ein Leben lang die Treue. „Außerdem spielen bei den Fußballfans lokale und familiäre Sozialisationsinstanzen eine große Rolle: Oft nimmt der Vater den Sohn zum Heimspiel des örtlichen Vereins mit ins Stadion.“ Film- oder Musikfans erfahren dagegen meist durch die Medien von ihren Helden.
Und noch ein paar Besonderheiten weisen die Fußballfans auf. Sie sind größtenteils noch immer männlich, fanden Schäfer und sein Kollege heraus. Verglichen mit anderen Fangruppen seien unter den Fußballfans auch mehr Real- und Hauptschüler als Gymnasiasten. Eines verbindet dagegen alle Fans: Sie sammeln Informationen und Devotionalien ihrer Idole.
Der Fußballfan an sich ist allerdings alles andere als eine homogene Spezies. Es gebe dort ganz verschiedene Gruppierungen, sagt Schäfer. Beispielsweise die sogenannten Ultras, der harte Kern der Fans, oder die aggressiven und gewaltbereiten Hooligans. Jede dieser Gruppen pflege gegenüber der anderen ein gemeinsames „Wir gegen die anderen“-Gefühl, das eine Hierarchisierung innerhalb der Szene ergebe. Ein Phänomen, das sogar im Stadion sichtbar wird. In der Kurve, sagt Schäfer, stünden die Fans erster Klasse, diejenigen, die immer im Stadion sind. Sie fühlten sich den Gelegenheitsfans überlegen, die auf den Geraden sitzen und nur gelegentlich ein Spiel „ihrer“ Mannschaft besuchen.
Im kommenden Jahr soll ein Buch mit den Ergebnissen der Studie erscheinen, das sicher nicht nur einzelne Vereine und Verbände, Sicherheitskräfte und Politiker interessieren dürfte, sondern auch die Industrie. Schließlich ist Fußball auch Kommerz – und Fans sind gute Kunden, die verstanden und umworben werden wollen.
Für den Sportsoziologen und Philosophen Professor Gunter Gebauer bedeutet Fußball jedoch weit mehr als Kommerz: „Es ist als Bühne dessen zu sehen, was in der Gesellschaft wichtig ist.“ Bei einem Fußballspiel gestalte der Zuschauer das Geschehen auf dem Rasen mit: Gesänge, rhythmisches Klatschen und rituelle Aufführungen pushen die heimischen Spieler oder hemmen das gegnerische Team. Kein Wunder, dass der Wissenschaftler der Freien Universität Berlin lieber das englische Wort „Supporter“ (Unterstützer) verwendet und nicht das deutsche Pendant „Fan“ (von „fanatisch“).
„Wir fragen uns, inwiefern ein Spiel etwas über die Gesellschaft aussagt, in der es gespielt wird“, sagt Gebauer, der an der Freien Universität im Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen“ das Teilprojekt „Die Aufführung der Gesellschaft in Spielen“ leitet.
Ein Fußballspiel beschreibt Gunter Gebauer als „dynamischen Sport“, bei dem viel offener Raum überbrückt wird und in dem der Zufall eine große Rolle spielt. „In Spielen wird die Macht des Zufalls aufgeführt“, sagt der Philosoph. Fußballerische Persönlichkeiten wie der ehemalige französische Nationalspieler Zinedine Zidane, die den Zufall beherrschen oder zumindest minimieren – etwa indem sie mit perfekten Kurzpässen den Raum überwinden und möglichst oft das Tor treffen – seien die Helden des Spiels.
„Es gibt mittlerweile auch immer mehr Fußballfachfrauen, die sich für harten Männerfußball interessieren“, sagt Gebauer. Als Anführer in einem Fanblock sehe man Frauen zwar immer noch nicht. „Sie gehören mit dazu und unterstützen die männlichen Fans dabei, die Mannschaft zu supporten.“ Allerdings, räumt Gebauer ein, hätten sich inzwischen auch rein weibliche Fanclubs in den Ligen gegründet – und da stimmen mit Sicherheit inzwischen auch Frauen die Vereinshymnen an.
Eines sei aber bei allen Fußballfans gleich, sagt Gebauer: es gebe einen Kodex von Ehre und Treue – Werte, die sie bewahren und auf die sie stolz sind. Sie wollen einer vermeintlich schlechten Gesellschaft eine bessere Gemeinschaft gegenüberstellen. Sie definieren sich durch ihre Begeisterung, ihren Glauben an den Verein. „Für die Fans bedeutet Fußball Erfüllung“, sagt Gebauer. Mit ihrer Hingabe und der bedingungslosen Unterstützung leisteten sie einen Dienst am Verein. Das habe fast schon religiöse Züge. Die Fans sind davon überzeugt, den Spielern auf dem Rasen mit ihrer Präsenz Kraft zu geben. Und die Fans pflegen, wie ihre Vorbilder, zuweilen schrullige Gewohnheiten: „Es gibt Anhänger, die ziehen zu einem Spiel genau die Socken an, die sie getragen haben, als ihr Verein beim vergangenen Spiel gewonnen hat“, sagt Gebauer.
Die Spieler sind den Fans zwar wichtig, und sie verehren sie, der Verein aber steht über allem. „Fans sind traurig oder sogar beleidigt, wenn ein guter Spieler den Verein verlässt, dem Verein halten sie aber weiterhin die Treue“, weiß Gebauer. Bislang ist der Sportphilosoph selbst noch kein enthusiastischer Fußballfan, „aber ich schaue mir gern Champions-League-Spiele an“.
Der wahre Fan Ebby Kleinrensing wird darüber wohl nur lächeln können: Seine erste Ehe soll zwar an der Fußball-Leidenschaft gescheitert sein, aber er steigt immer noch für jedes Spiel seiner Mannschaft ins Flugzeug nach Nottingham.