Indien hat Zukunft
Von Dieter Lenzen
Ein Pavian springt über meinen rechten Fuß, als ich aus der Tür trete, dicht gefolgt von einem laut bellenden verwilderten Hund. Es ist die Tür zum Dienstzimmer des Präsidenten der Jawaharal Nehru University (JNU) in Neu-Delhi. Die JNU – eine vor 38 Jahren gegründete Universität mit geistes- und sozialwissenschaftlichen Schwerpunkten – ist Partneruniversität der Freien Universität Berlin. Den Amtskollegen kenne ich aus dem kleinen Beraterkreis der Weltuniversitäten bei Kofi Annan. Indien ist da.
Abendessen in kleiner Runde mit Partnern der Freien Universität Berlin. Eine indische Physikerin an meiner Seite kommt bald mit einer Frage, die wir uns in Deutschland auch stellen: „Why don't your children get educated and sometimes even not become literate in Germany?“ PISA und Rütli sind keine Ereignisse, die nur deutsche Bildungspolitiker interessieren und Lehrerinnen und Eltern. Indien ist da.
Ein indischer Abgeordneter hat sich im Büro gemeldet. Er hat erfahren von der Errichtung unseres Büros. Er möchte einen schnellen Termin, möchte helfen. Besuch in seinem Hause. Was er für uns tun kann? – Der Umgang mit Behörden ist langwierig und Aufmerksamkeit für universitäre Anliegen nicht selbstverständlich. Ein paar Telefonate vom Sofa aus. Er ist Almnus der Freien Universität Berlin und schwärmt zwischendurch von Dahlem. Nach 20 Minuten ist ein Termin mit der Ministerin für „Human Resources Development“ verabredet. Empfang bei ihr gleich am nächsten Tag. Sie hat eine Stunde Zeit! Es geht um Stiftungslehrstühle. Indien kann schnell sein.
Besuch bei der „Association of Indian Universities“, der indischen Hochschulrektorenkonferenz. Keine Illusionen über die Bedeutung Deutschlands. 80 000 Inder studieren in den USA. Die Gruppe, die in Deutschland jährlich studiert, passt in ein paar Autobusse. Grund: Die USA zahlen für die ausgewählten Studenten komplette Stipendien, die den gesamten Unterhalt einschließen. Die Gründe für das Desinteresse werden mit entwaffnender Ehrlichkeit beantwortet: „Warum sollten Inder in Deutschland studieren, wenn die besten Deutschen selbst in die USA gehen?“ Europa ist ein Ausweichplatz, wenn man nicht an den Spitzenuniversitäten der USA aufgenommen wird. Und: In Deutschland dauert das Studium zu lange. Das Durchschnittsalter indischer Ingenieur-Absolventen ist 19 Jahre, Ärzte sind mit 24 Jahren komplett ausgebildet. Indien ist schnell.
Ob die deutsche Sprache eine Barriere sei? Grundsätzlich nicht, Inder sprechen nach dem Schulabschluss bereits drei bis vier Fremdsprachen. Warum sollten sie eine fünfte dazulernen? Alles klar. Europa: Unser Büro befindet sich im Gebäude der Alliance Française. Nebenan die UNESCO. Auf der Rückseite ein frisch erbautes indisch-islamisches Kulturzentrum. Blütenarrangements auf den Fußböden zur Begrüßung. Ein „Herzlich willkommen“ aus weißen Margeritenblüten auf der Treppe. Das tut gut. Die ARD-Korrespondentin kommt gerade aus Afghanistan. Ein intelligentes Gespräch. Ein winziges Stück Deutschland dort. Ein kleiner Anker der Freien Universität Berlin. Ein Empfang aus Anlass unserer Eröffnung in der Deutschen Botschaft. Die Freie Universität präsentiert sich mit einer Tagung. Indisch-deutsches Essen unter freiem Himmel. Indien hat Zukunft – Zukunft von Anfang an.
Der Autor ist Präsident der Freien Universität Berlin