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Das größte Verbrechen ist Gleichgültigkeit

André Glucksmann bei der ersten Hegel-Lecture an der Freien Universität

André Glucksmann bei der ersten Hegel-Lecture an der Freien Universität
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Der französische Philosoph André Glucksmann über Völkermorde, die Studentenunruhen von 1968 in Frankreich und seine Erinnerungen als Korrespondent in Berlin an den Fall der Mauer  

Monsieur Glucksmann, man hat Sie eingeladen, das Dahlem Humanities Center zu eröffnen. In welcher Funktion werden Sie sprechen? Als Philosoph? Als Schriftsteller?

Als Eingeladener? (lacht) Da müssen Sie schon die fragen, die mich eingeladen haben, in welcher Funktion sie mich haben einladen wollen … Wissen Sie, ich soll ja eine Hegel-Lecture halten. Sie wissen, dass Hegel behauptet hat, das Gebet des modernen Menschen sei seine Tageszeitung. Es gibt also einen Bezug zur Aktualität und zur Philosphie, was – nach Hegel – keine voneinander getrennt existierenden Dinge sind.

Mit welchen Themen beschäftigt sich die Philosophie ganz aktuell?

Meiner Ansicht nach gibt es ein Thema, das alle interessiert – und das die Philosophen nicht genug interessiert: das Ende der Welt. Ein Thema, das natürlich nicht ganz neu ist. Als 1945 die Atombombe in Hiroshima explodiert und gleichzeitig die grauenhafte Wahrheit über die Konzentrationslager bekannt geworden ist, hat Jean Paul Sartre gesagt, nun sei es zum ersten Mal so, dass die Menschheit sich jeden Tag aufs Neue entscheiden müsse, ob sie weiterleben wolle. Denn man kann töten, sich umbringen, etwa mit einer Bombe, mit einer nie geahnten Grausamkeit, die ja nicht aufgehört hat, nur weil Deutschland besiegt worden ist. Diese Barbarei, dieser Krieg gegen Zivilisten dauert schließlich bis heute an. Nehmen Sie Darfur, Tschetschenien oder Ruanda: Damals wurden innerhalb von drei Monaten eine Million Tutsi ermordet, zehntausend pro Tag.

Ihr letztes Buch heißt „Der Zorn eines Kindes“. Was kann Sie mit 70 Jahren richtig zornig machen?

Ich glaube, das größte Verbrechen – das ist jetzt nicht von mir, das ist eine Idee, die ich schon immer hatte, die ich aber glücklicherweise von Hermann Broch formuliert fand –, das größte Verbrechen ist das Verbrechen der Gleichgültigkeit. Als Broch nach Österreich zurückgekehrt ist, das er 1936/1937 verlassen hatte, hat man ihn gefragt, ob er glaube, dass alle Österreicher und alle Deutschen Nazis seien. Er hat natürlich nein gesagt. Und genauso sind die Deutschen und die Österreicher nicht allein verantwortlich für den entsetzlichen Tod von 50 Millionen Menschen zwischen 1940 und 1945. Im Gegenteil: Es gibt ein Verbrechen, das die Verbrechen der Nationalsozialisten erst möglich gemacht hat und deswegen wichtiger ist, ja eigentlich entscheidend: das Verbrechen der Gleichgültigkeit. Und an dieser Schuld tragen alle Europäer.

Haben französische Philosophen in der Öffentlichkeit mehr Gewicht als deutsche Philosophen hier?

Nun, es wäre schön, wenn es so wäre, aber ich bin mir da nicht so sicher. Was stimmt, ist, dass es in Frankreich eine Philosophie- Tradition gibt, die wie die Aufklärung eng mit der Realität verbunden ist. Diese Tradition geht auf die Zeit vor der Aufklärung zurück und fußt auf Montaigne, dem ersten französischen Philosophen, der auf Französisch geschrieben hat – übrigens auch der Tiefgründigste aller französischen Philosophen. Sein Gewissen wurde durch extreme Grausamkeiten angestachelt – zuerst die Religionskriege in Frankreich, danach der Kolonialismus. Hier haben Sie tatsächlich eine Tradition, der die Schriftsteller zuweilen noch Ehre machen.

Sie veröffentlichen in Kürze mit ihrem Sohn Raphaël ein neues Buch mit dem Arbeitstitel „Die Studentenunruhen vom Mai 1968 – erläutert für Nicolas Sarkozy“. Ihr Sohn ist doch ein Kind der siebziger Jahre und 24 Jahre jünger als der französische Präsident …?

Mein Sohn ist zwar erst 1979 geboren, aber die Tragweite von 1968 hat er voll zu spüren bekommen. Das gilt für den Kult, der um 1968 veranstaltet wird, ebenso wie für die Dämonisierung der Achtundsechziger. Einer der damaligen Protagonisten ist sein Vater. Ja, und mit dem spricht er sich in dem Buch aus – auf eine nette Art übrigens.

Wieso braucht gerade Nicolas Sarkozy Nachhilfe im Fach „Mai 1968“?

Er hat während eines Treffens von Unterstützern seiner Präsidentschaftskampagne in aller Öffentlichkeit gesagt, Frankreich müsse – was 1968 betreffe – einmal gründlich aufräumen. Einer der Unterstützer bei dem Treffen war ich. Noch am selben Tag erhielt ich Telefonanrufe von damaligen Mitstreitern, die sich wie vor den Kopf gestoßen fühlten. Einen Tag später wurde ich in der Zeitung Libération „verurteilt“ – von Daniel Cohn- Bendit und Alain Geismar. Das müssen Sie sich einmal vorstellen: Zwei ehemalige Studentenführer, die 40 Jahre lang wohl nie etwas gemeinsam veröffentlicht haben, finden sich zu einer Art Politbüro zusammen und machen mir quasi den Prozess. Darüber musste ich schon lachen. Es lag also nahe, dass ich die Dinge ein wenig geraderücken wollte. Denn gerade Sarkozy muss doch erkennen, dass 1968 tiefgreifende Auswirkungen auf die Gesellschaft hat.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Nehmen Sie Sarkozy selbst: Noch nie hat es in Frankreich einen Geschiedenen gegeben, der eine Geschiedene heiratet, dann zum Präsidenten gewählt wird – und sich noch einmal scheiden lässt! Das passt nicht gerade in die Ära von de Gaulle und seiner Frau. Ebenso übersteigt es die Vorstellungskraft, dass jemand den Elysée-Palast erobert, der wie Sarkozy ungarisch-jüdischer Abstammung und zudem Ehemann einer Einwanderin ist. Wobei „erobert“ der falsche Ausdruck ist – sie sind ja nicht mit einer Kalaschnikow eingedrungen, sondern vom französischen Volk gewählt worden. Ohne Mai 1968 wäre das nie und nimmer möglich gewesen. Die Studenten haben damals gerufen: „Wir sind alle deutsche Juden“. Ich weiß nicht, ob Sie sich vorstellen können, was es für die damalige Zeit bedeutete, dass sich jemand selbst gleichermaßen als Märtyrer und Erbfeind bezeichnete. Das war ein prägender Moment, der sich gegen das alte Frankreich richtete.

Ist das Buch denn ein Seitenhieb gegen Sarkozy?

Wir stellen ihn zumindest infrage. Es wäre aber falsch, Sarkozy in die eine Ecke zu stellen und die Achtundsechziger in die andere.

Was verbinden Sie persönlich mit 1968?

Ich habe schöne Erinnerungen, freudige, befreiende Erinnerungen. Doch hat mein Leben nicht mit der Achtundsechziger- Bewegung begonnen und auch nicht damit geendet. Man sollte 1968 nicht als Mariä Himmelfahrt für eine ganze Generation ansehen. Aus meiner Sicht hat der Pariser Mai 1968 zwei Besonderheiten. Für uns war er zum einen der Anfang vom Ende des Marxismus und des Kommunismus, zum anderen der gedankliche Abschied von der alten Idee einer Revolution im Sinne eines finalen, blutigen und terroristischen Kampfes. Der Weg war nun also für neue gewaltfreie Revolutionen bereitet – nehmen Sie Portugal, Spanien und heute die Ukraine, Georgien, selbst Birma und den Libanon. Der Pariser Mai 1968 nimmt im Grunde die beiden stärksten Ereignisse des ausgehenden 20. Jahrhunderts vorweg: einerseits die demokratische Einigung Europas mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, andererseits den welthistorischen Wandel Chinas, das sich von seiner marxistisch geprägten Wirtschaft verabschiedet hat – wenn auch nicht von seiner Einheitspartei.

Die Achtundsechziger findet man heute in allen Gruppen der Gesellschaft.

Ja, und das ist doch sehr schön. Dennoch werden uns die Zeitungen im nächsten halben Jahr – denn länger wird das Thema niemanden interessieren –mit einem Hirngespinst traktieren. Die Journalisten werden den Klassenkampf durch den Kampf der Generationen ersetzen und uns weismachen wollen, die Generation der Achtundsechziger sei für die Gegenwart verantwortlich. Das ist natürlich absoluter Unsinn. Wenn schon die Klassen keine Geschichte schreiben, dann eine Generation erst recht nicht.

Welche Spuren haben die Achtundsechziger hinterlassen?

Eine ganze Reihe von Befreiungen: die Befreiung der Frau, der Umgangsformen und so fort. Wobei 1968 nur der Kristallisationspunkt für eine breite Bewegung war, die ohnehin bestand. Für die Revolution des Miteinanders halte ich 1945 für bedeutsamer, vor allem in Deutschland. Stellen Sie sich vor, welch unglaublichen Eindruck die einrückenden amerikanischen Soldaten auf Jugendliche damals gemacht haben, die bis dahin nur die Armee von Preußen und Nazi-Deutschland kannten. Die amerikanischen GI waren lässig gekleidet, trugen den Kragen offen, verteilten Kaugummi und diskutierten mit der Bevölkerung. Das war ein heftiger Einschnitt.

Sie haben 1989 für französische Medien über den Fall der Berliner Mauer berichtet. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?

Es war kalt, und viele Ostdeutsche froren vor Kälte, weil sie sich – froh wie sie waren – für den ersten Ausflug in den Westen in Schale geworfen hatten. Das soll nicht herablassend klingen, aber man erkannte sie an den unmodischen Jeansanzügen und daran, dass sie sich vor Mercedes- Autos fotografieren ließen. Ich habe damals für die Ostdeutschen ein Gefühl von Angst gehabt. Eine Angst, die sie selbst gehabt hätten, wenn sie nicht so glücklich gewesen wären, eine Ahnung, dass ihnen noch ein langer, schwieriger Weg bevorsteht.

Das Gespräch führten Christine Boldt und Carsten Wette.

Zur Person

André Glucksmann, Jahrgang 1937, ist einer der herausragenden französischen Philosophen der Gegenwart. Der Schriftsteller und Essayist lebt in Paris.
Seit vielen Jahren schreibt er Bücher gegen Fanatismus und die Dominanz von Ideologien. Glucksmann zählt zusammen mit Bernard-Henri Lévy und Alain Finkielkraut in Frankreich zu den Neuen Philosophen. Zuletzt erschien von ihm „Wut eines Kindes, Zorn eines Lebens“ (2007). Glucksmann hielt die Festrede bei der Eröffnung des Dahlem Humanities Center.
FU