Pippi und Pomperipossa
VON HOGWARTS NACH REYKJAVIK Literatur im Fokus der Forschung
Vor 100 Jahren wurde die Schriftstellerin Astrid Lindgren geboren
Von Jobst Welge
Spätestens seit der Wende zum 20. Jahrhundert besetzt die schwedische Kultur eine Pionierrolle in der Entwicklung einer neuen Literatur für Kinder. Eine wichtige Stichwortgeberin war die Frauenrechtlerin Ellen Key mit ihrem programmatischen Werk „Das Jahrhundert des Kindes“ (1900). Die frühen Klassiker – Elsa Beskows „Hänschen im Blaubeerwald“ (1901) und Selma Lagerlöfs „Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson“ (1906–1907) – wurden bald auch in deutscher Übersetzung bekannt und beliebt. Astrid Lindgren aber führte einen gänzlich neuen Ton in dieses Genre ein, der bis heute die moderne Kinderliteratur prägt. Sie wurde damit zur international bekanntesten schwedischen Schriftstellerin überhaupt. Lindgrens Geburtstag jährt sich nun zum 100. Mal: Am 14. November 1907 wurde sie in Vimmerby, Småland geboren.
Ihr bis heute berühmtestes Buch „Pippi Langstrumpf“ (im Original: „Pippi Långstrump“) erschien 1945. Verfasst von der damals 38-jährigen Journalistin Lindgren wurde es bis heute in mehr als 60 Sprachen übersetzt. Bereits bei Erscheinen schrieb eine Regionalzeitung, es handle sich um „das Kinderbuch des Jahres, vielleicht sogar des Jahrhunderts“. Freilich ließen auch die kritischen Reaktionen nicht auf sich warten. Im folgenden Jahr befand John Landquist, der damals führende Professor für Erziehung und Psychologie, dass „Pippi Langstrumpf etwas Widerwärtiges ist, was an der Seele nagt.“
Pippi gehört zu der Gruppe von Kunstfiguren, die die Regeln der Erwachsenenwelt auf den Kopf stellen, ähnlich wie Alice im Wunderland oder Dr. Seuss’ „Cat in the Hat“. Wie jedes Kind weiß: Pippi schläft mit ihren Füßen auf dem Kopfkissen, sie wohnt alleine in der Villa Kunterbunt (im Original: „Villa Villekulla“) mit ihrem Pferd und ihrem Affen, und sie ist das stärkste Mädchen der Welt. Im Zentrum der insgesamt drei Pippi-Bücher steht ihre Beziehung zu den wohlerzogenen Nachbarskindern Tommy und Annika, die im Gegensatz zu Pippi lesen, schreiben und rechnen können. Sie aber lernen von der „noblen Wilden“, wie man mit Phantasie, Mut und Fiktionen – denn Pippi ist eine notorische Lügnerin – eine Gegen-Welt erschafft. Um diesen „Verfremdungseffekt“ zu erreichen, bezieht sich Pippi ständig auf ihre vormaligen Reiseerfahrungen mit ihrem seefahrenden Vater, der inzwischen auf einer Südseeinsel als „Negerkönig“ regiert. So behauptet sie frech, wenn ihr beim Backen ein Ei über dem Kopf zerbricht, dass „in Brasilien alle Menschen Eigelb in den Haaren haben“. Pippis willkürliche Verweise auf Südamerika, den Kongo oder Singapur dienen dazu, das Ungewöhnliche zu normalisieren und das Gewöhnliche zu verfremden. Das Mädchen mit den roten Zöpfen und den Sommersprossen ist eine Kulturrelativistin im Kinderzimmer.
Das Buch Pippi Langstrumpf hat seinen Ursprung in einer mündlichen Erzählung, die Lindgren für ihre Tochter ersann, als diese 1944 wegen einer langen Krankheit im Bett lag. Lindgren fertigte bald darauf ein Manuskript an, das sie bei dem bekanntesten schwedischen Verlag Bonniers einsandte. Das Buch wurde abgelehnt – und erschien im folgenden Jahr in einer überarbeiteten Version im Verlag Rabén & Sjögren, bei dem Lindgren selbst lange angestellt war. Das Originalmanuskript wurde nun unter dem Titel „Ur-Pippi“ erstmals vom Schwedischen Kinderbuchinstitut herausgegeben (Rabén & Sjögren, 2007). Das aufschlussreiche Nachwort von Ulla Lundqvist zeigt, dass die endgültige Version literarisch eleganter und vieldeutiger ist – dass aber das Original sprachlich innovativer ist und dass die Heldin gegenüber den Erwachsenen noch respektloser agiert.
1945 befand sich Schweden auf der Schwelle jenes lange währenden sozialdemokratischen Experiments, das es von einem verarmten, agrarischen Land in eines der reichsten und fortschrittlichsten der Erde verwandeln würde. Nachdem Lindgren lange mit sozialdemokratischen Ideen sympathisiert hatte, trug sie im Jahr 1976 in maßgeblicher Weise zum Sturz der viele Jahre anhaltenden sozialdemokratischen Regierung bei: Als von ihr erwartet wurde, 102 Prozent Einkommenssteuer zu bezahlen – Ingmar Bergman wurde im selben Jahr der Steuerhinterziehung verdächtigt und festgenommen –, protestierte sie mit einem satirischen Zeitungstext. „Pomperipossa in Monismanien“ nahm die absurde Steuergesetzgebung für Freischaffende aufs Korn.
Über diese und andere öffentlich-politische Interventionen, die Lindgren in ihrer Heimat zu einer lebenden Legende machten, informiert jetzt eine kleine Ausstellung in der schwedischen Nationalbibliothek in Stockholm: „Astrid Lindgren als Meinungsbildnerin“ ist noch bis Ende November zu sehen (Kungliga Biblioteket, www.kb.se).
Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin.