Die neue Frau im neuen Medium
Zur Retrospektive „City Girls. Frauenbilder im Stummfilm“ der Berlinale 2007
Von Gertrud Koch
Nachdem die Retrospektive der Berlinale 2006 den „Traumfrauen. Stars im Film der fünfziger Jahre“ gewidmet war, wendet sich die diesjährige Retrospektive nun einer Ära zu, die wie keine andere durch das Aufbrechen von sozialen Strukturen und ihrer Geschlechtermatrix bestimmt war. Es ist die Zeit des Stummfilms, der bis in die dreißiger Jahre hinein den Boden bereitete für die „Neue Frau“. Mit dieser Formel wurde die Frau bedacht, die nicht mehr innerhalb des familialen Systems vom Vater an den Ehemann überging, sondern sich selbstständig gemacht hatte und machen musste. Mit der Entwicklung der technischen Reproduktionsmedien ebenso wie durch die Abwanderung der ländlichen Bevölkerung in die Städte wurden die Frauen in neue Bereiche der Arbeitswelt eingestellt. Das Fräuleinvom Amt, das mit flinken Fingern und freundlicher Stimme die Verbindungen zwischen den Telefonteilnehmern verknüpfte, und die Privatsekretärin, die stenografierte Diktate in enormer Geschwindigkeit auf die Tasten der Schreibmaschinen übertrug, gehören hier ebenso dazu wie die Verkäuferinnen der großen Kaufhäuser und die Heerscharen der Tippmamsells, die in Großraumbüros und Schreibsälen ihren Lebensunterhalt verdienten.
Das Mädchen mit dem gewissen Etwas: Die Schauspielerin Clara Bow verkörpert in dem Film „It“ den neuen Frauentyp. Foto: Berlinale |
In der Freizeit, so die These des Filmtheoretikers Siegfried Kracauer, „gehen die kleinen Ladenmädchen ins Kino“. Das Kino wurde schnell der Ort, an dem sich die neuen Angestellten wiederfanden: vor und auf der Leinwand. Denn es war dem Kino vorbehalten, die neuen Lebens- und Arbeitsformen, die in den großen Städten entstanden waren, auf ihre Wunsch- und auf ihre Angstpotenziale hin abzutasten. Träume vom sozialen Aufstieg und Albträume von der Isolation in der anonymen Masse der Großstadt gingen Hand in Hand wie die jungen Paare, die sich im Kino trafen, um sich im Dunkeln zu umarmen. Das Kino wurde so zu einem Ort der neuen Öffentlichkeit, die sich einerseits durch einen egalitären Zug bestimmen ließ, weil sich hier nicht nur die Geschlechter, sondern auch die Schichten und Klassen mischten. Andererseits trug das Kino auch funktionalen Charakter, indem seine Räumlichkeiten eben jenen Schutz boten, der es Frauen erlaubte, sich alleine dort aufzuhalten, wie es auch Paaren als Treffpunkt diente. Allerdings sind dies keine Verhaltensweisen, die sich auf alle Frauen erstrecken. erstrecken.Im Jahr 1914 untersucht die Soziologin Emilie Altenloh das Kinopublikum und dabei auch die Frauen. In einer der ersten Rezeptionsstudien überhaupt zum weiblichen Kinobesuch kommt sie bereits zu dem Ergebnis, dass sich dort verheiratete Frauen aufhalten, die aus Langeweile heraus den Übergang in die starken Gefühlswelten des Kinos vollziehen und sich besonders für Melodramen interessieren. Zumindest für die 1910er-Jahre ist die Mehrheit des Publikums zwar männlich, aber es sind doch bereits die Frauen, die bei einem gemeinsamen Kinobesuch auf das Melodrama dringen. Oft haben sie weder das Geld für den Kinobesuch noch die Zeit, sich aus den familialen Verpflichtungen zu lösen. Immer wieder betont Altenloh, dass es vor allem die Filme mit Asta Nielsen sind, die das Publikumfesseln und an das Kino binden. Eine Entwicklung, die sich seit den 1910er-Jahren sicher drastisch geändert hat und schließlich in einer viel stärkeren Präsenz der Frauen im Publikum mündete, so wie auch der Anteil der erwerbstätigen Frauen stark ansteigt.
Das Kino wird aber auch deswegen zur Ikone der neuen Frau, weil es sich zum Teil eben jener „neuen Sachlichkeit“ verschrieben hat, die den Radius der Frau als Handlungsradius beschreibt und nicht mehr als verhängnisvollen Kreislauf der Gefühle. Die „Neue Frau“ ist in der Komödie zu Hause. Wie der flapper, die neue amerikanische junge Frau, die kurze Röcke und kurzes Haar trägt, Jazz hört und sich über die Regeln des guten Benehmens selbstbewusst hinwegsetzt, ist sie auf Selbstständigkeit bedachte Ironikerin, die durchaus auch im Stummfilm Haare auf den Zähnen haben kann und mit den Männern eher konkurriert, als dass sie sie umschmeichelt.
Die Filme geben beredte Auskunft von der veränderten Gefühlslage – aber, und das ist das große Geheimnis, sie verfallen nicht einfach dem neuen Bild, sondern vermessen die Fallhöhe des Fortschritts. Es sind auch die Jahre des Melodramas, des Sozialdramas, in denen die Abstiege in die Prostitution thematisch werden, in denen die großen Passionen destruktiv werden und Liebe und Sexualität in offene Spannung zueinander treten. Die Frauen erscheinen als Vamp und als Verstoßene auf Leinwänden, die nur eine Straßenbreite voneinander trennt. Der Stummfilm wird zum aktiven Zeugen all jener Möglichkeiten, die der Zufall dem Leben in der Großstadt beschert und die sowohl als Chance wie als Unglück eintreten können. Die Filme tragen Titel wie „Dirnentragödie“, „Die Privatsekretärin“, „Die Austernprinzessin“, „Lady Windermeres Fächer“, „Hintertreppe“, „Die freudlose Gasse“, „Der blaue Engel“ oder „Die Büchse der Pandora.“
Aber nicht nur die deutschen Filme ziehen ihre Spannung aus der Ungleichzeitigkeit von romantischer Liebessemantik und modernem Berufsleben, auch der russische Film arbeitet an diesen Grenzen entlang ebenso wie der japanische Film, man denke nur an Mizoguchis frühe Melodramen oder die großen Dirnentragödien des chinesischen Films.
Film ist das große Verbreitungsmedium einer globalisierten Gefühlskultur, die bereits reaktiv auf die Brüche der Modernisierungsschübe des ausgehenden 19. Jahrhunderts antwortet. In den Geschlechterverhältnissen wird diese Spannung spürbar: Die Bilder der Frauen in den Stummfilmen streuen nicht nur horizontal weltweit, sondern auch vertikal in den historischen Schichtungen über die gesamte Palette und liefern so im Sinne des französischen Historikers Marc Ferro ein Stück „Gegen-Geschichte“, mit der jene latenten Strömungen artikuliert werden, die in der Gesellschaft noch nicht in Regeln gefasst sind. Auf der Ebene der Körpersprache werden bereits die großen Gesten und Inventare der Affektspiele betrauert, die die Frauen an der Schwelle von Haus und Welt zu tragischen Botinnen einer Lebensform machten, der zwischen dem Management des Haussegens und den Segnungen des Arbeitsmarktes wenig attraktiven Optionen gegenüberstand. Auch davon erzählen die stummen Filme.
Die Autorin ist Professorin am Seminar für Filmwissenschaft der Freien Universität Berlin und unter anderem Mitherausgeberin der Zeitschrift „Frauen und Film“.