Aus der Laudatio der Bundesforschungsministerin
SCHRIFTSTELLER, ESSAYIST UND ÜBERSETZER
Die Ehrendoktorwürde für Arnold Stadler
Aufrufend, anrufend
Von Annette Schavan
„Einmal das Dorf hinauf und hinunter: So sind wir unterwegs.“ – Das sind Zeilen aus dem Psalm 90 in der Übertragung von Arnold Stadler. Im Psalm über die Vergänglichkeit menschlichen Lebens benutzt er ein Bild, das prägnant die kurze Zeitspanne ausdrückt, über die sich dieses Leben im Angesicht der Ewigkeit vollzieht. Die Zeilen stehen zugleich für sein Anliegen, den Psalmen, die seit 3000 Jahren gebetet werden, ihre ursprüngliche Kraft wiederzugeben.
Die Übertragungen der Psalmen waren die ersten Texte, die ich von Arnold Stadler gelesen habe und seither immer wieder lese.
Ich freue mich sehr, dass die Freie Universität in Berlin sein schriftstellerisches Werk mit der Ehrenpromotion würdigt. Es ist für mich eine Ehre und Freude, bei dieser Gelegenheit über ihn und sein Werk zu sprechen.
Präsident Dieter Lenzen (rechts) gratuliert Arnold Stadler. Foto: Bernd Wannenmacher |
Arnold Stadler lässt seine Figuren immer wieder nach Oberschwaben zurückkehren, in dieselbe Gegend, in der der Autor aufgewachsen ist. Glaubt man dem, was die Ich-Erzähler in Stadlers Romanen sagen, dann muss es eine unwirtliche Gegend gewesen sein. „Das Frühjahr war so spät bei uns, dass es immer erst im nächsten Frühjahr blühte“, heißt es in „Mein Hund, meine Sau, mein Leben“. Und an anderer Stelle beschreibt er diese Gegend als „Badisch-Sibirien“. Gemeint ist die Region um Meßkirch, wo Stadler 1954 geboren wurde und wo er unweit der Heidegger-Stadt, nämlich auf einem Bauernhof in dem kleinen Dorf Rast, aufwuchs. Als Provinz mag das mancher abtun, der weltmännisch etwas von sich hält. Stadler aber steht zu seiner Herkunft, Bildungsdünkel liegen ihm fern. Schließlich weiß er auch, dass man die Gegend um Meßkirch herum auch als „Genie-Winkel“ bezeichnet.
Was für die einen Idylle ist und heile Welt, macht Arnold Stadler zu einem Hauptthema seines literarischen Schaffens. Es ist seine katholisch-alemannische Herkunftswelt, mit der er in seinen Romanen arbeitet und die er darin auch verarbeitet. „Heimat“ verbindet Stadler mit „Heimatfriedhof“, mit Schmerz und Erinnerung, die er gleichzeitig als seine „Hauptmusen“ nennt. Stadler ist seiner Heimat verbunden, steht ihr aber auch kritisch gegenüber. „Je mehr ich über diese kleine, überschaubare Welt schrieb, je unheimlicher wurde sie mir“, sagt Stadler einmal in einem Interview. Dennoch wagt er immer wieder den sentimentalen Rückblick, er richtet den Blick auf etwas, was längst vergangen und unwiederbringlich ist. Stadlers Werk ist nicht ein Schwelgen in alten Erinnerungen, bei Stadler wird dieses Nachdenken über eine vergangene Zeit gleichzeitig auch zu einer Gegenwartskritik.
In seinen Romanen und Erzählungen schildert Arnold Stadler enge, kleine Verhältnisse, Abhängigkeiten, Minderwertigkeitsgefühle, Lebensängste. Immer geht es aber auch um die Lust, zu leben, die Lust, auf- und auszubrechen. Und immer ist damit ein schlechtes Gewissen und ein Gefühl von Schuld verbunden.
Damit traute sich Stadler in recht jungen Jahren etwas, wozu mancher Schriftsteller erst in seinem Spätwerk den Mut findet: Mit schonungsloser Genauigkeit bleibt Stadler ganz nah am Autobiographischen, breitet eigene Prägungen aus und bearbeitet Verletzungen höchst artistisch. (...)
Prägend für dieses Leben zwischen oberer Donau und westlichem Bodensee ist der tief verwurzelte katholische Glaube. Ein wahrer Katholizismus. Arnold Stadler ist Ministrant, der Weg zum Priesteramt vorgezeichnet. Stadler studiert in München und Rom katholische Theologie. Er lernt dort eine Kirche kennen, wie er sie in seiner Heimat nie erlebt hat. Stadler kommt nicht umhin, diese Amtskirche samt ihrer Ausprägungen zu karikieren und sich gleich mit, wenn der Ich-Erzähler, der vermeintliche Kardinal, ob seines jugendlichen Alters mit Erstaunen und Hochachtung bedacht wird. "So jung und schon Kardinal", rufen sie ihm auf der Straße hinterher. (...)
Doch aus Rom kam Stadler nicht als Priester zurück. "Wie ich nach Rom gekommen bin, so ging ich: trostlos, im Grunde unbelehrt, ins Ungewisse. Und außerdem: nun dick, nun grauhaarig, ein Trinker“, lässt Stadler seinen Ich-Erzähler sagen. Arnold Stadler studiert noch einmal: Germanistik in Freiburg und Köln und promoviert über die Psalmenrezeption im Werk von Bertold Brecht und Paul Celan.
Der Schriftsteller Arnold Stadler trat am 1. August 1994 in die Öffentlichkeit. Stadler würde vielleicht sagen: „Er wurde getreten“. An diesem Tag erschien im „Spiegel“ ein Beitrag von Martin Walser über Arnold Stadler und seine drei bis dahin erschienenen Romane. Eine Hymne war es, die Walser auf Stadler sang. „Da ist ein Ton“, setzte diese Hymne an. „Aufrufend, anrufend“, sei dieser Ton, der in sich den Rhythmus dieser Prosa berge. Es sei eine „Sprache, die eher aufruft, als erzählt. Namen, Plätze, Zeiten werden aufgerufen und erscheinen. Es werden keine Geschichten erzählt, sondern Hauptsachen aufgerufen.“ Walser lobt Stadlers Fähigkeit zur Kürze, die es erst zulässt, Sätze, von denen jeder eine Sache ist, hart aneinander zu fügen.
Stadler spielt mit der Sprache - und er seziert sie. Das kann vor allem der, der sich eine Sprache erarbeiten musste, nachdem er schon eine andere gelernt hatte. Wie eben Stadler, der in der oberschwäbischen Mundart aufgewachsen ist. Doch diese von Heidegger so viel gerühmte Muttersprache und jene, die dies sprechen, relativiert Stadler. „War sie die Muttersprache] nicht schon so schwach, dass sie bald nach der ersten Begegnung mit dem Fernsehen und seinem hochdeutschen Gepräge in sich zusammenfiel und ausgestorben ist wie die Indianer?“ (...)
Wie wichtig Sprache im Werk Stadlers ist, zeigt sich in seiner Übertragung der Psalmen. Gelangweilt hat sich der eine oder andere vielleicht gefragt, ob denn eine abermalige Übersetzung notwendig sei, wo sich doch schon in den Jahrhunderten vorher mancher gelehrte Kopf daran seinen Kopf zerbrach: Notker der Deutsche, Martin Luther, Moses Mendelssohn, Johann Gottfried Herder, Martin Buber, Bertolt Brecht, Romano Guardini, Paul Celan könnte man nennen. Und jetzt auch noch Arnold Stadler? Ja, antworten wir und sind dankbar.
Stadler wollte die Psalmen nicht übersetzen. Bewusst spricht er von „Übertragung“. „Sie stellt keinen weiteren Übersetzungsversuch dar. Dies ist keine Übersetzung. Das wäre ein törichter Ehrgeiz, eine merkwürdige Vermessenheit. Denn …es gibt in der deutschen Sprache oder Literatur keinen Text, der häufiger und genauer übersetzt worden wäre.“ Stadler stellt an sich den Anspruch, die Psalmen nicht Wort für Wort zu übersetzen, sondern sie in eine "Sprache zu bringen, die lebt". (…)
Stadler ist es gelungen, den Spagat zu bewältigen zwischen Übersetzung und Nachdichtung. Mit der Übertragung der Psalmen hat er damit nicht nur sein schriftstellerisches Können unter Beweis gestellt. Er hat auch als Theologe gewirkt, indem er die Rede von Gott in Worte gefasst und zur Sprache gebracht hat. (...)
Schwermut, gepaart mit einem kräftigen Schuss Ironie, Verzweiflung und Wortwitz zeichnen Stadlers Arbeiten aus. Über die Literatur sagt er: „Eine der möglichen Aufgaben von schreiben und lesen, von Literatur, ist nämlich, auch für mich, die Vorbereitung auf den Tod, das Junktim von Todeshorizont und Lebensgegenwart. Dies ist überall da möglich, wo die entsprechenden schönen Bücher geschrieben werden.“ Und in seiner Dankesrede zum Georg-Büchner-Preis stellt Arnold Stadler fest „Die einzige Gewissheit ist: Es tut weh, also bin ich.“
Wir, die Stadler-Lesegemeinde, freuen uns auf Ihren neuen Roman. Und ich gratuliere Ihnen herzlich zu der heutigen Verleihung der Ehrendoktorwürde.
Die Autorin ist Bundesministerin für Bildung und Forschung und stellvertretende CDU-Vorsitzende.