Raum für tiefe Einblicke
Im Neubau SupraFAB untersuchen Forschende der Chemie, Physik und Biologie gemeinsam die Vorgänge auf Zelloberflächen
30.06.2022
Die SupraSwing von Künstlerin Katja Marie Voigt steht neben dem Forschungsbau. Chemieprofessor Rainer Haag (re.), Physikprofessorin Stephanie Reich (Mitte) und Peter Lange (li.), ehemals Kanzler der Freien Universität, weihten die Schaukel ein.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher
Ohne Kontakte keine Kommunikation, keine Reaktion, kein Leben. Was im echten Leben gilt, trifft in besonderem Maß auf dessen kleinste Einheit zu – die Zelle. Erst wenn Botenstoffe oder andere Zellen an den filigranen Zuckerstrukturen auf ihrer Oberfläche, den Glykanen, andocken, weiß eine Zelle, was sie zu tun hat. Über diesen Kontakt werden Signalkaskaden im Inneren ausgelöst, und die Reaktion folgt meist prompt: Alarm! – wenn es ein Virus ist. Aktivierung des Zellstoffwechsels – wenn ein Hormon bindet. Feuern von Nervenzellen – wenn Neurotransmitter auftreffen. Doch wie funktioniert das eigentlich, wenn ein Neuron im Gehirn blitzschnell einen Nervenreiz weiterleitet? Welche Proteinkomplexe und Transportmoleküle sind dafür zuständig?
Offen Forschungsfragen: Was genau passiert auf Zelloberflächen?
Zelloberflächen sind Grenzflächen. Was an ihnen tatsächlich passiert, ist teilweise noch immer unklar. Detailliertes Wissen darüber könnte der Medizin jedoch viele neue diagnostische und therapeutische Möglichkeiten eröffnen. „Meist sind es schwache Wechselwirkungen, etwa multivalente elektrostatische, die an der Oberfläche stattfinden“, erklärt Chemie-Professor Rainer Haag. Darüber docken zum Beispiel Corona-Viren an der Nasenschleimhaut an und werden längere Zeit festgehalten, bevor sie die Zellen entern.
Im neuen Forschungsgebäude SupraFAB an der Dahlemer Altensteinstraße, einer gemeinsamen Einrichtung der Fachbereiche Biologie, Chemie, Pharmazie und Physik der Freien Universität Berlin, will man künftig sehr genau hinschauen. „Die Abkürzung SupraFAB steht für Supramolekulare funktionale Architekturen an biologischen Grenzflächen“, sagt ihr Sprecher Rainer Haag. „Neben biologischen Systemen schließt dies auch die Erforschung von Prozessen ein, die sich an und zwischen zweidimensionalen Materialien wie Graphen abspielen, jenen dünnen Einzelschichten aus Kohlenstoff.“
Freie Sicht: Großgeräte ermöglichen den Blick auf kleinste Strukturen
Der 48 Millionen Euro teure Bau, je zur Hälfte vom Bund und dem Land Berlin finanziert, bietet einzigartige Möglichkeiten für die Analytik von feinsten Strukturen und Prozessen auf molekularer Ebene. Zehn Millionen der Bausumme flossen allein in modernste Großgeräte, etwa ein LT-STM-AFM – ein höchstauflösendes Tieftemperatur-Rastertunnel-Rasterkraftmikroskop, mit dem sich einzelne Atome auf einer Oberfläche sichtbar machen und zugleich spektroskopisch analysieren lassen. Stolz ist Chemiker Rainer Haag auch auf das NAP-XPS, ein Röntgenelektronenspektrometer, das nicht im Hochvakuum, sondern sogar unter schwachem Wasser-Dampfdruck arbeiten kann, sodass sich damit die atomare Zusammensetzung von Strukturen auch an biologischen Oberflächen ermitteln lässt.
Die Arbeit an derart hochsensiblen Geräten erfordert ein extrem schwingungsarmes Gebäude: Es ruht deshalb auf einer einen Meter dicken Betonplatte. Ein 40 Tonnen schweres Sonderfundament auf Luftfedern entkoppelt zusätzlich die empfindlichsten Apparaturen von äußeren Einflüssen. Auch elektromagnetisch ist SupraFAB komplett abgeschirmt. Ablenkungen durch SMS und Messengerdienste sind also unmöglich. Wer via Smartphone kommunizieren will, muss nach draußen gehen.
Drittmittelprojekte bringen Abwechslung bei Forschungsthemen
Besonders an dem lichten Gebäude, in dem viel Weiß, partiell recycelter Beton und helles Holz dominieren, ist auch die Art der „Bespielung“. Es gibt in dem neuen Bau weder Hörsäle noch Praktikumsräume, nur Speziallabore und Messräume. Forschung pur also. Aus zwölf Arbeitsgruppen und fünf Nachwuchsgruppen werden jeweils fünf bis zehn Mitarbeitende dort forschen, darunter 40 Promovierende, die über Sonderforschungsbereiche und andere Forschungsverbünde wie den Exzellenzcluster NeuroCure oder das deutsch-kanadische Graduiertenkolleg „Charging into the Future“ finanziert werden.
„Wir arbeiten hier in einer Hülle, die instrumentell gut ausgestattet, aber ansonsten im Prinzip leer ist. Für Forschung und Mitarbeitende gibt es keine feste Finanzierung. Die muss stets über Drittmittel eingeworben werden“, erklärt Rainer Haag. Im Moment seien die Arbeitsgruppen diesbezüglich gut eingedeckt. Aber man müsse sehen, dass das auch in Zukunft so bleibt. „Das ist auch richtig so, denn wir wollen natürlich eine gewisse Dynamik haben und nicht in 20 Jahren noch an den gleichen Dingen forschen wie heute.“
Biologie, Chemie, Physik: Im SupraFAB verschwimmen die Fächergrenzen
Forschung an Grenzflächen – das gilt hier auch im übertragenen Sinne. Biologie, Physik und Chemie haben von Natur aus gewisse Schnittmengen. Aber an den Grenzflächen der Disziplinen will man auch neue, spannende Themenschwerpunkte identifizieren und gemeinsam angehen.
Ein erster Aufschlag dafür sind zwei Schlüsselprofessuren für die Forschung im Neubau. Zwischen Chemie und Biologie agiert Professor Kevin Pagel. Er analysiert mit neuen massenspektroskopischen Methoden die Glykan-Strukturen auf den Zellmembranen und zieht daraus Rückschlüsse auf bestimmte Erkennungsmotive. Professor Siegfried Eigler schlägt mit seiner Forschung – Synthese von Carbon- Nanomaterialien und Analyse der Interaktionen von Molekülen mit diesen Oberflächen – die Brücke zwischen Chemie und Physik.
Die hochkarätige Geräte-Ausstattung hat auch zum Ziel, Kooperationen zu fördern. Sie steht allen Mitgliedern der Berlin University Alliance zur Verfügung sowie anderen Forschungseinrichtungen der Stadt. Enge Kooperationen gibt es bereits zur nahen Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM), der Charité – Universitätsmedizin Berlin – des gemeinsamen medizinischen Fachbereichs der Freien Universität und der Humboldt-Universität zu Berlin –, sowie diversen Max-Planck- und Leibniz-Instituten.
Viele Räume für Kommunikation unter Forschenden
Kommunikation steht hier hinter allem. Schon in der Architektur ist das Gebäude dazu angelegt: Neben vielen Gemeinschaftsflächen und einem großen Atrium, in dem sich die Forschenden ständig über den Weg laufen, gibt es zahlreiche Sitzecken und Kommunikationsflächen. Ein „Wohnzimmer“, in dem man nach der Arbeit beim Plaudern auch etwas trinken kann, kommt noch dazu. Wem selbst da nichts mehr einfällt, der kann mit zwei anderen Personen die interdisziplinäre Dynamik auf der SupraSwing – einer gekoppelten Dreierschaukel der Künstlerin Katja Marie Voigt im Garten des Gebäudes – in Gang bringen.
Weitere Informationen
Weitere Informationen und aktuelle Termine (viermal im Jahr werden öffentliche „Dahlemer Gespräche“ stattfinden) finden sich online unter www.suprafab.fu-berlin.de