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Gegensätze ziehen sich an

Mit den eigenen Waffen schlagen: Die Moleküle der hochansteckenden Omikron-Variante besitzen eine höhere Ladung – das lässt sich auch gegen das Coronavirus verwenden

23.02.2022

Winziges darstellen. Ein Kryo-Elektronenmikroskop am Forschungszentrum für Elektronenmikroskopie (FZEM) der Freien Universität Berlin wird mit Proben bestückt.

Winziges darstellen. Ein Kryo-Elektronenmikroskop am Forschungszentrum für Elektronenmikroskopie (FZEM) der Freien Universität Berlin wird mit Proben bestückt.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Gleiche Ladungen stoßen sich ab – entgegengesetzte Ladungen ziehen sich an. Diese elektrostatische Anziehung ist umso stärker, je mehr positive und negative Ladungen aufeinandertreffen. „Multivalente Wechselwirkungen“ nennen Forschende wie Professor Rainer Haag dieses Phänomen, das an der Freien Universität Berlin im Rahmen des Sonderforschungsbereiches „Multivalenz als chemisches Organisations- und Wirkprinzip“ schon seit mehr als zehn Jahren untersucht wird. „Wir arbeiten vor allem zur Wechselwirkung von geladenen Molekülen und biologischen Oberflächen. Speziell dabei mit der Frage, wie Viren auf der Zelloberfläche binden und wie man das verhindern könnte“, erklärt der Polymerchemiker.

Die meisten Viren nutzen Ladungswechselwirkungen für den Erstkontakt zur Wirtszelle – so auch das Coronavirus. Es besitzt Proteine, die stark positiv geladen sind, und es wird regelrecht angezogen von menschlichen Zellen, deren Oberflächen reich mit negativ geladenen Zuckerketten, den sogenannten Heparansulfat-Ketten, bestückt sind. So bekommt SARS-CoV2 quasi den „Fuß in die Tür“, bevor sein Spikeprotein an das Enzym ACE2 auf der Zellmembran bindet.

Die Berliner Forschungslandschaft geeint gegen SARS-CoV2

Bereits Anfang 2020 begann Rainer Haags Team, im Rahmen eines großen Berliner Corona-Verbundprojekts, SARS-CoV2 und seine Varianten zu untersuchen. Das mit 1,8 Millionen Euro von der Berlin University Alliance geförderte und kürzlich abgeschlossene „Corona Virus Pre-Exploration-Project“ hatte unter anderem die Entwicklung und Erprobung antiviraler Therapien und Präventionsansätze zum Ziel. Zusammen mit den Hauptantragstellern Rainer Haag und Professor Christian Drosten, dem Direktor des Instituts für Virologie an der Berliner Charité – Universitätsmedizin Berlin, waren 16 Forschende aus Chemie, Virologie, Biophysik, Veterinärmedizin und Pneumologie der Berliner Forschungslandschaft daran beteiligt.

Mehr positiv geladene Aminosäuren bedeuten bessere Haftbarkeit und mehr Verbreitung

Die positiven Ladungen des Coronavirus rühren von Aminosäuren des Spikeproteins her – Lysin, Arginin und Histidin –, die unter physiologischen Bedingungen positiv geladen sind. „Wir haben uns die Aminosäuresequenzen des Spikeproteins aller Corona-Mutanten genauer angesehen und festgestellt, dass die Delta-Variante pro Spike vier positiv geladene Aminosäuren mehr besitzt als der Wildtyp, also die ursprüngliche Wuhan-Variante. Und die Omikron-Variante besitzt sogar neun positiv geladene Aminosäuren mehr“, sagt Rainer Haag. „Es ist also logisch, dass Omikron stärker in Wechselwirkung mit den Zellen tritt und sich besser anheften kann. Was eine Erklärung dafür sein könnte, warum man sich mit der Omikron-Variante leichter infiziert.“

Gedacht ist an eine Inhalationstherapie

Für den Chemiker der Freien Universität ist das im Grunde eine gute Nachricht. Denn seit einigen Jahren entwickelt er gemeinsam mit kanadischen Kolleginnen und Kollegen im Rahmen des neuen Graduiertenkollegs „Charging into the Future“ synthetische Polysulfane. Sie sollen einmal Viren am Erstkontakt mit Zellen hindern. Gedacht ist an eine Inhalationstherapie. Am einfachsten wäre es, das Heparansulfat der Zelle zu imitieren, das dem natürlichen Heparin sehr ähnelt. „In Israel wird derzeit in klinischen Studien getestet, ob sich Heparin inhalieren lässt. Doch es gibt zwei Probleme“, erklärt Rainer Haag. „Zum einen darf Heparin keinesfalls überdosiert werden, weil es ein Gerinnungshemmer ist und ein potenzielles Blutungsrisiko birgt. Zum anderen ist es nicht effektiv genug.“ Die als Alternative entwickelten künstlichen Polysulfane übertreffen Heparin in der Wirkung um zwei bis drei Zehnerpotenzen.

Basis dafür sind Molekülstränge aus Polyglycerolen. Das sind verkettete Glycerin-Moleküle, die pro Einheit je eine Sulfatgruppe tragen. „Jedes dieser Sulfate kann also eine positive Ladung des Spikeproteins einfangen“, erklärt Haag. Würde man das Polyglycerol als Nasenspray verwenden, sähe das Virus sozusagen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr und würde sich im Wirkstoff verfangen statt an den Zellen.

Polysulfate wirken gegen alle Viren, die elektrostatisch an ihre Wirtszellen andocken

„Die Aufnahme über Nase und Rachen bis hin zur Lunge hat den großen Vorteil, dass der Wirkstoff gezielt dort eingesetzt werden kann, wo er hin soll.“ Prophylaktisch gegeben, könnte solch ein Spray eine Corona-Infektion verhindern. Die Gefahr, dass Polysulfate bei weiteren Mutationen des Virus ihre Wirkung verlieren, besteht nach Rainer Haags Einschätzung nicht. „Die Fähigkeit zur Ladungswechselwirkung ist für das Virus überlebenswichtig. Denn wenn es nicht mehr an die Heparane auf den Zelloberflächen binden könnte, wäre es auch nicht mehr so infektiös.“

In Zellkulturen konnte die Wirksamkeit bereits nachgewiesen werden, und gut verträglich sind die Polysulfate auch. „In Lungenzellkulturen haben wir gesehen, dass die Konzentration, die wir für die Virusblockade benötigen, um drei Zehnerpotenzen unter dem liegt, was für die Zellen toxisch wäre.“ Für weitere Tests entwickeln die Forschenden der Berlin University Alliance zurzeit ein dreidimensionales Lungenmodell. Danach sollen Studien in Tiermodellen folgen. Auch erste Kontakte zur Pharmaindustrie gibt es bereits.

Die notwendigen klinischen Studien am Menschen sind teuer und langwierig. „Für diese Pandemie wird es also keine Hilfe mehr sein“, sagt Rainer Haag. Dennoch sind die Erkenntnisse wertvoll. Denn das Wirkprinzip sei so universell, dass es auch gegen die Ansteckung mit vielen anderen Viren, etwa RSV und den „normalen“ Coronaviren helfen werde – gegen alle, die über elektrostatische Wechselwirkungen an ihre Wirtszellen andocken. Das Spray könnte zum „Must have“ im Herbst und Winter werden – auch als Alternative zur Maske.

Start-up mit Unterstützung der Universität

Sehr viel schneller sind nach diesem Prinzip entwickelte „Virenfänger“ in Form einer Beschichtung von Luftfilteranlagen einsatzbereit, denn dafür bedarf es nur eines TÜV-Zertifikats. Das Konzept dafür wurde in der Arbeitsgruppe Haag entwickelt und patentiert. Das Start-up-Unternehmen „NoVirall“ – geleitet von der Postdoktorandin Paria Pouyan in Rainer Haags Gruppe – wird vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz im Rahmen des Programms „EXIST Forschungstransfer“ mit 950 000 Euro gefördert; auf diese Weise soll die Beschichtung zur Marktreife gebracht werden. Sie besteht aus einer positiv geladen Haftschicht, auf die ein negativ geladenes Viruzid aufgetragen wird, welches quasi die menschliche Zelloberfläche imitiert. Beide Schichten lassen sich via Tauchverfahren auf beliebiges Filtermaterial auftragen und zerstören innerhalb von zwei Stunden die Zellmembranen der eingefangenen Viren. Erstaunlich, wie einfach der Kampf gegen Viren sein kann.