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Wie der Zufall im Gehirn mitmischt

Emmy-Noether-Nachwuchs-Gruppenleiter Gerit Linneweber erforscht individuelles Verhalten von Fruchtfliegen

28.09.2021

Laune der Natur. Bei der Entwicklung des Gehirns spielen Zufallsprozesse eine Rolle. Selbst bei Zwillingen, die gemeinsam aufwachsen, gibt es Unterschiede im Aussehen und Verhalten.

Laune der Natur. Bei der Entwicklung des Gehirns spielen Zufallsprozesse eine Rolle. Selbst bei Zwillingen, die gemeinsam aufwachsen, gibt es Unterschiede im Aussehen und Verhalten.
Bildquelle: pexels-cottonbro

Sie sind winzig, ziemlich lästig und treten meist im Pulk auf. Und wenn es irgendwo nach reifen Früchten riecht, sind sie nicht mehr zu halten. Ihr Image ist nicht das Beste. Doch abgesehen von Insektenfressern und fleischfressenden Pflanzen werden sie von einer weiteren „Spezies“ hoch geschätzt – den Biologinnen und Biologen.

Die Fruchtfliege Drosophila melanogaster ist ein beliebter Modellorganismus, denn bei ausgewachsenen zwei Millimetern Körperlänge ist vieles an ihnen simpler gebaut als bei den meisten anderen Lebewesen. Auch ihr Gehirn, das nur etwa 100.000 Nervenzellen hat. Das klingt zwar recht viel für einen solchen Winzling, ist aber nicht viel mehr als der sprichwörtliche Fliegenschiss gegen die etwa 85 Milliarden Neuronen des menschlichen Denkapparats.

Gerit Linneweber, der derzeit eine Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe an der Freien Universität Berlin aufbaut, erforscht am Fliegenhirn das Phänomen der Individualität. Denn obwohl man bisher dachte, darüber verfügten erst Wirbeltiere, tickt offenbar auch nicht jede Fruchtfliege gleich. Das zeigen ganz einfache Verhaltensexperimente. Dazu wird eine Fliege für 15 Minuten in eine Arena gesetzt, die nichts weiter enthält als eine weiße Plattform mit zwei identischen schwarzen Balken, die sich gegenüberliegen. Für die Insekten, die in einem kontrastarmen Reinraum gezüchtet wurden, ist das ein starker visueller Reiz.

Fruchtfliegen mit eigenem Charakter

„Manche reagieren heftig darauf und laufen ständig zwischen den Balken hin und her. Andere ignorieren sie völlig und erforschen die gesamte Plattform“, erläutert der Neurobiologe. „Auch, wenn wir die Tests mehrmals wiederholen, verhalten sich die Fliegen genauso wie zuvor.“ An einem Sehfehler liegt es nicht. Nein, die gleichgültigen Fliegen sind schlicht nicht interessiert. Offenbar haben unterschiedliche Individuen verschiedene Präferenzen.

Was macht den Unterschied? Es liegt am Maß der Symmetrie, mit der eine Gruppe von im Mittel 28 Nervenzellen verteilt ist, die ihre beiden Gehirnhälften miteinander verbindet. Nach den Experimenten sehen sich die Forscherinnen und Forscher unter dem Mikroskop diese Gehirnregion genau an. „Manche Fliegen haben tatsächlich 14 Neuronen auf jeder Seite – bei anderen finden wir ein Verhältnis von 16 zu 4. Interessanterweise reagieren gerade die mit der starken Asymmetrie besonders stark auf visuelle Reize“, erklärt Gerit Linneweber. Asymmetrische Gehirne erleichtern es, sich zwischen zwei gleichen Optionen zu entscheiden, indem sie die Symmetrie zwischen identischen Reizen brechen, so die Vermutung.

Künstlich Asymmetrie erzeugen

Einige Fliegen durchlaufen ein weiteres Experiment, für das sie eine Art Augenklappe bekommen. Durch einen kleinen Lacktupfer einseitig blind gemacht, reagieren diese „Probanden“ nun deutlich stärker auf die Balken als zuvor. „Wir können also auch auf höherer Ebene – wie dem Auge – künstlich Asymmetrie erzeugen.“

Wie entsteht eine Asymmetrie im Gehirn? Vereinfacht gesagt, gibt es lange und kurze Neuronen, erklärt Gerit Linneweber. Und darüber, wie viele jeweils davon entstehen, entscheidet eine bestimmte Signalkaskade während der Embryonalentwicklung – der Notch-Signal-Weg. „Er verstärkt während der Entwicklung die Unterschiede zwischen Zellen. Bei sehr viel Notch gibt es am Ende keine langen Neurone mehr – bei wenig Notch bilden sich fast nur lange.“

Kleines Tier groß in der Forschung: Fruchtfliege Drosophila melanogaster.

Kleines Tier groß in der Forschung: Fruchtfliege Drosophila melanogaster.
Bildquelle: pexels-egor-kamelev

Hat die Asymmetrie Vorteile für die Fliegen? „In unserem Experiment nicht. Aber die Tatsache, dass hier die Genetik offenbar nicht eins zu eins in den Phänotyp übersetzt wird, ist eine evolutionäre Strategie.“ Angenommen Genomvariante A (Genotyp A) würde exakt nur Individuen vom Erscheinungsbild A (Phänotyp A) ergeben und Genotyp B entsprechend nur Phänotyp B. Und weiter angenommen, die Umweltbedingungen änderten sich und A hätte nun einen Vorteil. Dann würden sich diese Individuen mit der Zeit durchsetzen – die „Bs“ aber würden aussterben. „Ist das Genotyp-Phänotyp-Mapping jedoch unpräzise – sprich: Ein breites Spektrum an Varianten von Phänotyp A und B entsteht – würde sich die Anzahl von B zwar verringern, aber Phänotyp B würde nie ganz verschwinden“, erläutert Gerit Linneweber.

Die Asymmetrie im Fliegengehirn entstehe zwar zufällig, aber dennoch kontrolliert durch die Gene. „Wir sehen bei Drosophila normalerweise 14 der langen Neuronen in diesem Gehirnbereich. Bestimmte Genotypen lassen jedoch maximal fünf entstehen – aber innerhalb dieser fünf ist von null bis fünf alles möglich.“ Bei 14 ist die Spannbreite entsprechend breiter – von null bis 14. Die Genetik schränkt demnach den Spielraum des Zufallsprozesses ein. Vollkommene Symmetrie bezüglich dieser Neurone, so schätzt Gerit Linneweber, hätte wohl maximal ein Drittel der Fliegen.

Ähnlichkeiten zum Menschen

Haben auch Menschen Asymmetrien im Gehirn? „Ja, es gibt Hinweise darauf, dass auch bei unserer Gehirnverdrahtung Zufallsprozesse eine Rolle spielen.“ Bei eineiigen Zwillingen gibt es, selbst wenn sie getrennt voneinander aufgewachsen sind, frappierende Ähnlichkeiten, die weit über Äußerlichkeiten hinausgehen. Etwa die Vorliebe für ein bestimmtes Musikinstrument. „Doch selbst bei Zwillingen, die zusammen und damit unter den gleichen Umweltbedingungen aufwuchsen, gibt es Unterschiede. Im Verhalten, aber auch im Aussehen. Sie sehen sich sehr, sehr ähnlich, sind aber nie gleich“, sagt Gerit Linneweber.

Ein typisches Beispiel für einen Zufallsprozess seien die Fingerabdrücke: Sie sind an beiden Händen verschieden, und auch eineiige Zwillinge haben unterschiedliche Fingerabdrücke. Biologisch gesehen hätte es auch keinen Vorteil, wenn sie identisch wären. „Deshalb besteht auch kein evolutionärer Druck für vollkommene Symmetrie.“

Auch wenn uns zu einem großen Teil Genetik und Umwelt zu dem machen, was wir sind, wird jedes Individuum, selbst wenn es noch so klein ist, auch durch Zufallsprozesse gesteuert. Ist das eher beunruhigend oder faszinierend? Wohl beides.

Gerit Linneweber will nun untersuchen, wie die Asymmetrie der Neuronen zu unterschiedlichen Signalen im Gehirn der Fliegen führt. Und außerdem, wie sich die Individualität beim Lernen auswirkt. „Bisher haben wir ja nur das angeborene Verhalten von Drosophila untersucht. Nun wollen wir wissen, wie gut die einen Fliegen im Vergleich zu den anderen lernen“, erläutert Gerit Linneweber. „Ganz wertfrei natürlich“, fügt er lachend hinzu.