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Im Botanischen Garten wächst das Wissen

Der Botanische Garten der Zukunft ist mit der Welt vernetzt: Die Digitalisierung des Herbariums ermöglicht wichtige Erkenntnisse zum Erhalt der Artenvielfalt

27.09.2021

Im Kakteenhaus sind mit Kakteen, Agaven und Dickblattgewächsen Sukkulentenlandschaften der Neuen Welt zu sehen. Weitere Schaugewächshäuser zeigen die Pflanzenwelt der Tropen und Subtropen. Herzstück der botanischen Anlage ist das Große Tropenhaus.

Im Kakteenhaus sind mit Kakteen, Agaven und Dickblattgewächsen Sukkulentenlandschaften der Neuen Welt zu sehen. Weitere Schaugewächshäuser zeigen die Pflanzenwelt der Tropen und Subtropen. Herzstück der botanischen Anlage ist das Große Tropenhaus.
Bildquelle: Christiane Patic

Nils Köster nimmt eine Mappe mit der Nummer 9442 aus einem Regal im Herbarium. Mit weißen Stoffhandschuhen öffnet er sie, legt ein vergilbtes Papier auf den Tisch. In der Mitte klebt ein getrocknetes Blatt, darunter steckt in einem Miniumschlag das zugehörige weiße Blütenblatt. Das über 200 Jahre alte Dokument ist der erste wissenschaftliche Nachweis des „Cactus bleo“.

Es ist einer von rund 3300 Pflanzenbelegen im Herbarium des Botanischen Gartens Berlin der Freien Universität, die Alexander von Humboldt und sein Assistent Aimé Bonpland von ihren beschwerlichen Südamerika-Reisen mitbrachten. „Als sie die Pflanzen pressten und beschrieben, hockten sie vermutlich bei feuchter Luft und Kerzenschein in einer kleinen Hütte, gepeinigt von Mücken“, sagt Nils Köster, Kustos für Tropische und Subtropische Lebendsammlungen am Botanischen Garten.

Arbeitet mit alten Dokumenten. Nils Köster, Kustos der Tropischen und Subtropischen Lebendsammlungen.

Arbeitet mit alten Dokumenten. Nils Köster, Kustos der Tropischen und Subtropischen Lebendsammlungen.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Auch wenn Sammelreisen ganz im Sinne von Alexander von Humboldt bis heute mit Partnern in vielen Ländern stattfinden und zu einem stetigen Zuwachs der Berliner Pflanzensammlung beitragen, eröffnet gerade die Verknüpfung von Feldforschung und Digitalisierung neue Möglichkeiten: Heute können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von jedem Ort der Welt bequem an ihrem Computer sitzend an Humboldts sämtlichen Pflanzenbelegen forschen, denn diese sind seit einiger Zeit als hochauflösende Fotos frei über das Internet zugänglich.

Und auch die verbleibenden getrockneten und konservierten Pflanzenbelege in Deutschlands größtem Herbarium sollen digitalisiert werden. Bisher sind erst 20 Prozent erfasst. In zehn Jahren, so das Ziel, soll die komplette Sammlung in der Datenbank sein: insgesamt etwa 4 Millionen Pflanzenbelege aus der ganzen Welt. 

Wissen bewahren. Der Direktor des Botanischen Gartens, Thomas Borsch, stellt seine Zukunftspläne der Öffentlichkeit vor.

Wissen bewahren. Der Direktor des Botanischen Gartens, Thomas Borsch, stellt seine Zukunftspläne der Öffentlichkeit vor.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Die Digitalisierung ist nur eines der Vorhaben, mit denen sich der Botanische Garten Berlin, der vor mehr als 300 Jahren in Schöneberg gegründet, vor 110 Jahren am neuen Standort in Dahlem eröffnet wurde und seit 1995 zur Freien Universität Berlin gehört, für die Zukunft rüsten will.  „Wir bewahren Wissen, wir mehren Wissen, und wir teilen es mit der Welt“, sagt Professor Thomas Borsch.

Der Botanische Garten hat ein neues Zukunftskonzept

Der Direktor des Botanischen Gartens Berlin hat kürzlich der Öffentlichkeit das Konzept vorgestellt, mit dem die traditionelle Institution eine Brücke zu den großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit schlagen will. Über erweiterte Angebote – zum Beispiel neue Ausstellungstafeln auf der gesamten Freifläche – sollen Besucherinnen und Besucher noch mehr über Arten- und Umweltschutz informiert werden. Garten und Museum sollen noch stärker zu einem Ort werden, an dem ein gesellschaftlicher Diskurs über Biodiversität und ihre Bedeutung stattfindet.

Mehr als 17 Millionen Euro fließen bis 2023 aus Fördermitteln der „Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GRW) in die Entwicklung der Gartenanlage. Im Frühjahr 2022 soll das neue Besucherzentrum am Eingang Königin-Luise-Straße eröffnet werden – ein lichtes Gebäude mit Holzdach und Hofgarten. Das Botanische Museum wird bis 2023 neu konzipiert und umgebaut.

Der Botanische Garten als Motor der Biodiversitätsforschung

Für die Wissenschaft können Botanische Gärten im 21. Jahrhundert durch die Forschung an ihren Sammlungen einen wichtigen Beitrag zu den großen Fragen der Biodiversitätsforschung leisten. Welche und wie viele Arten gibt es? Wo kommen sie vor? Wie groß ist ihre genetische Vielfalt? Wenn sich der Wissensschatz aus den Herbarien in Deutschland und weltweit zusammenführen lässt, können Forscherinnen und Forscher von gewaltigen Datensätzen profitieren.

„Daten müssen nicht nur international offen zugänglich, sondern auch standardisiert und vernetzt sein“, sagt Thomas Borsch. Dazu gehört, mithilfe des neu gegründeten Zentrums für Biodiversitätsinformatik und Sammlungsdatenintegration eine globale Dateninfrastruktur zu schaffen. Unterschiedliche Datentypen sollen so miteinander verbunden werden können, dass neue Erkenntnisse entstehen.

350 000 Landpflanzen gelten als wissenschaftlich akzepiert 

Weltweit arbeiten Botaniker und Botanikerinnen daran, die Vielfalt der Pflanzen auf der Erde zu erfassen, denn wie groß die globale Biodiversität tatsächlich ist, weiß man nicht genau. Derzeit sind etwa 350 000 Arten von Landpflanzen – also von Moosen, Farnen und Blütenpflanzen – wissenschaftlich akzeptiert. Jedes Jahr kommen etwa 2000 Neuentdeckungen hinzu.

Auch bereits bekannte Arten müssen mit modernen Methoden neu voneinander abgegrenzt werden. „Es geht deshalb auch um die digitale Verknüpfung von Objekten mit molekularen DNS-Sequenzen, mit denen man gezielt Verwandtschaftsverhältnisse klären kann“, sagt Thomas Borsch. „Auf Grundlage dieser Erkenntnisse lässt sich gezielt schauen, welche Individuen zu einer Art gehören und wie diese auf der Welt verbreitet sind, um neue Erkenntnisse für den Artenschutz zu gewinnen.“

 

Elke Zippel, Kustodin der Dahlemer Saatgutbank, ist Ansprechpartnerin für die Artenvielfalt von Wildpflanzen.

Elke Zippel, Kustodin der Dahlemer Saatgutbank, ist Ansprechpartnerin für die Artenvielfalt von Wildpflanzen.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Informationen, die dringend gebraucht werden, denn in zahlreichen Studien wurde in den vergangenen Jahren auf den massiven Rückgang vieler Arten hingewiesen. Die akute Zerstörung von Lebensraum – durch Abholzung, Intensivierung der Landwirtschaft, Bodenversiegelung, Abbau von Bodenschätzen und vieles mehr – führt zu starken Verlusten der biologischen Vielfalt.

Mithilfe von „Big Data“ ließen sich zukünftig auch Modelle errechnen, die Auskunft über den Rückgang oder auch die vermehrte Ausbreitung von bestimmten Arten im Zusammenhang mit klimatischen Veränderungen geben.

In der Saatgutbank lagern Pflanzenschätze

Einen wichtigen Beitrag zum Schutz der Artenvielfalt leistet auch die ebenfalls zum Botanischen Garten gehörende Dahlemer Saatgutbank. Hier lagern Tausende Proben von Wildpflanzensamen – viele davon stammen von seltenen und gefährdeten Arten. Sie stehen für die Forschung zur Verfügung, werden aber auch eingesetzt, um bedrohte Pflanzen wiederanzusiedeln. Damit Wiederansiedlungen und Populationsstützungen von Pflanzen auf lange Sicht erfolgreich sind, müssen sie wissenschaftlich begleitet werden. So wurden zum Beispiel die letzten Vorkommen der Duft-Skabiose – eine krautige Pflanze, die bis zu 50 Zentimeter hoch wächst – in Berlin wieder zu einer lebendigen Population aufgebaut.

Weitere Informationen

Für einen Besuch ist der Botanische Garten am Haupteingang Königin-Luise- Straße 6-8 täglich von 9 bis 20 Uhr geöffnet. Es wird gebeten, ein Online-Ticket zu buchen. Eintritt 6/3 Euro, www.bo.berlin

Der Botanische Garten wird 1679 als kurfürstlicher Hof- und Apothekergarten an der Potsdamer Straße in Berlin-Schöneberg gegründet. Carl Ludwig Willdenow, von 1801 an Direktor des Botanischen Gartens und von 1810 an erster Professor für Botanik an der neugegründeten Berliner Universität, entwickelt ihn zu einer wissenschaftlichen Institution. Im Jahr 1819 wird die Sammlung konservierter Pflanzen „Königlich Preussisches Herbarium“ mit Bibliothek gegründet, geleitet von Kustos Adalbert von Chamisso. Das Königlich Botanische Museum wird 1879 auf dem Gelände des Botanischen Gartens, in dem auch das Herbarium untergebracht ist, erbaut. Im Jahr 1897 wird beschlossen, den Botanischen Garten in Dahlem neu anzulegen. 1910 wird er am neuen Standort formell eröffnet. Im Zweiten Weltkrieg werden Teile der Schaugewächshäuser und ein Gebäudeflügel des Museums sowie Millionen von Herbar-Belegen zerstört. Das Herbarium zählt mit vier Millionen Belegen heute wieder zu den größten zehn Einrichtungen weltweit – jedes Jahr kommen etwa 40.000 neue Belege hinzu. Zur Freien Universität gehören Botanischer Garten und Botanisches Museum seit 1995. Die Forschung zu Botanik und Biodiversität sowie der internationale wissenschaftliche Austausch werden seither systematisch entwickelt.