Springe direkt zu Inhalt

Nachhaltigkeit, die sich rechnet

Die ökologische Wende gestalten: Mathematikerin Sarah Wolf analysiert agentenbasierte Modellierung für Nachhaltigkeitsfragen

17.02.2021

Mathematik als Sprache. Sarah Wolf arbeitet mithilfe der Mathematik an ökologischen Fragen und an eindeutigen Definitionen.

Mathematik als Sprache. Sarah Wolf arbeitet mithilfe der Mathematik an ökologischen Fragen und an eindeutigen Definitionen.
Bildquelle: Jan-Hendrik Niemann

Im Internet sind die kleinen Rechner sehr beliebt: Man schiebt ein bisschen an den Reglern und sieht direkt, wie der Verzicht auf Fleisch oder der Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel die individuelle Klimabilanz verbessern würde. Die Modelle, an denen die Mathematikerin Sarah Wolf an der Freien Universität arbeitet, funktionieren im Prinzip ganz ähnlich. Auch sie simulieren, welche Auswirkungen bestimmte Entscheidungen oder Maßnahmen auf die Wirtschaft, die Gesellschaft und die Umwelt hätten. Nur sind diese sogenannten agentenbasierten Modelle sehr viel größer und komplexer, wie Sarah Wolf erklärt: „Wir stellen zum Beispiel alle Menschen in Deutschland als ‚synthetische Population‘ dar. Es geht dann nicht nur um die individuelle Klimabilanz, sondern auch um Wechselwirkungen zwischen den Entscheidungen von vielen Akteuren.“

In Gemeinschaft die Gemeinschaft erforschen

Zurzeit baut Sarah Wolf am Institut für Mathematik der Freien Universität in der Abteilung „Biocomputing“ die Nachwuchsgruppe „Mathematics for Sustainability Transitions“ (Mathematik für Nachhaltigkeit – Entscheidungsunterstützung mithilfe agentenbasierter Modellierung) auf. Die Nachwuchsgruppe leitet Sarah Wolf im Rahmen des Exzellenzclusters Math+, eines in der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder geförderten Forschungsverbundes. Der Cluster ist ein Gemeinschaftsprojekt von Freier Universität, Humboldt-Universität und Technischer Universität in Kooperation mit dem Weierstraß-Institut für Angewandte Analysis und Stochastik und dem Zuse-Institut Berlin. Schon länger werden ähnliche Modelle in der Ökologie eingesetzt, um zum Beispiel zu simulieren, wie sich die Entwicklung eines Gesamtsystems aus dem Verhalten vieler einzelner Pflanzen oder Tiere ergibt. Seit einiger Zeit stellt man mit ihnen auch das Verhalten von Menschen, Haushalten, Firmen oder Staaten dar. Diese werden dann im Modell als „Agenten“ repräsentiert.

Mit der Mathematik die Modelle unterstützen

Damit der Computer die Entscheidungen der Agenten und ihre Auswirkungen im Gesamtsystem simulieren kann, müssen die Entwicklerinnen und Entwickler bei der Programmierung Annahmen treffen. Ihnen stehen allerdings keine allgemein anerkannten Standardannahmen zur Verfügung, wie es sie zum Beispiel für viele naturwissenschaftliche Modelle gibt. Daher ist auch die simulierte Dynamik nicht immer verständlich, sagt Sarah Wolf. Sie will deshalb mathematische Grundstrukturen entwickeln, mit denen die Modelle besser und schneller analysiert werden können. Auch die Programmierung neuer Modelle oder die Anpassung an variierende Fragestellungen soll in Zukunft einfacher werden.

Die Nische ausbauen

Das Interesse für mathematische Herausforderungen hat Sarah Wolf als „Familienkrankheit“ geerbt, wie sie sagt: Ihre Eltern hatten beide Mathematik studiert. Aus Essen im Ruhrgebiet zog Sarah Wolf nach dem Abitur nach Berlin, um an der Humboldt-Universität Mathematik zu studieren. Sie spezialisierte sich auf Stochastik, also Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik. „Die Anwendungen drehten sich im Studium vor allem um Finanzmärkte“, erzählt sie. „Optionspreise, Portfolios und Gewinnmaximierung waren aber nicht meine Welt.“ Über eine Promotionsstelle am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) kam sie in Kontakt mit den Nachhaltigkeitswissenschaften. „Im Moment ist es noch eine Nische, Mathematik zu nutzen, um Nachhaltigkeit zu fördern. Dabei würde sich ein Ausbau dieses Bereichs sehr lohnen“, sagt sie.

Forschung zu Umweltthemen ist meist interdisziplinär, das Übersetzen von einer Fachsprache in eine andere ist deshalb eine wichtige Voraussetzung. „Am PIK haben wir Mathematik als Sprache verwendet, um eindeutige Definitionen für Begriffe zu finden, von denen es in der Literatur oft heißt, dass sie unklar sind. Zum Beispiel, was es bedeutet, dass ein Ökosystem ‚vulnerabel‘ ist.“

Wichtiger Austausch

Auch nach ihrer Promotion am PIK arbeitete Sarah Wolf in einem interdisziplinären Team für das Global Climate Forum. Dieser in Berlin ansässige gemeinnützige Verein von Forschenden und Instituten, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen will offene Debatten über Klimafragen anregen. Als besonders wirkungsvoll stellten sich agentenbasierte Modelle heraus, die bei Veranstaltungen in einem sogenannten „Decision Theatre“, einem Diskussionsraum, eingesetzt werden.

Das ist der zweite Unterschied zu den kleinen CO2-Rechnern im Internet: Die Teilnehmenden schieben nicht alleine an irgendwelchen Reglern, sondern sie tauschen sich untereinander aus, wie das System funktioniert und welche Entscheidungen sinnvoll wären. Die Kombination von Ausprobieren mit dem Modell und Diskussion in der Gruppe, zu der meistens auch Expertinnen und Experten aus der Praxis eingeladen sind, bereichert den Forschungsprozess. Sarah Wolf sagt: „Eine Stärke dieser Modellierung ist, dass sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit den Agenten identifizieren können. Durch ihre Ideen helfen sie uns auch, das Modell zu verbessern.“

Damit alle von der Wende profitieren

Das Thema der agentenbasierten Modellierung im „Decision Theatre“ des Global Climate Forum ist eine Mobilitätswende. Gefördert wird es in der Linie „Experimentallabore“ der Berlin University Alliance. Sarah Wolf will nun mit ihrer Forschung an der Freien Universität daran arbeiten, dass solche Modelle schneller und einfacher auf andere Fragestellungen anzuwenden sind. Schon jetzt kann Modellierung Entscheidungsträger wissenschaftlich unterstützen, zum Beispiel in den Diskussionen zur Umsetzung des Europäischen Green Deal. „Für alle Beteiligten wird ein System durch Modellierung transparenter“, sagt Sarah Wolf. „Das soll helfen, eine ökologische Wende so zu gestalten, dass nicht nur die Umwelt, sondern auch Wirtschaft und Gesellschaft profitieren.“