Das fantastische Klassenzimmer
Fantasiewelten und Zukunftsreisen: Mit Ausgründungen wie „Die Zukunftsbauer“ oder „Mastory“ haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler innovative Konzepte für Schulen entwickelt
17.02.2021
Die Reise in die Mathematik beginnt mit einer Frau. Die Mathematikerin Wilma Szamado übermittelt den Schülerinnen und Schülern eine Nachricht: Sie sollen ihren Freund, den Alien Moix, im Weltraum besuchen. In den nächsten Stunden lernen die Kinder ganz spielerisch mathematisches Denken und Problemlösen. Das Klassenzimmer wird zum Raumschiff, sie programmieren einen Roboter, messen auf der Navigationskarte Winkel, beim Tanz mit dem Alien geht es um Spiegelungen an der Achse.
Angehende Lehrkräfte mit neuen Konzepten unterstützen
„Mathalaxie“ ist ein innovatives Bildungskonzept, das an der Freien Universität Berlin entwickelt wurde. Es wird von Studierenden der Grundschulpädagogik an Berliner Schulen im Rahmen von Projektwochen und Ferienkursen angeboten – wenn auch während der Coronavirus-Pandemie und bei geschlossenen Schulen vieles nicht stattfinden konnte.
Die angehenden Lehrerinnen und Lehrer schlüpfen selbst in die Rollen von Astronauten-Ausbildern und außerirdischen Kreaturen. Die Kinder erschließen sich im Dialog mit ihnen die Lösung mathematischer Aufgaben. „Das Konzept lässt den Kindern Raum dafür, Ideen ganz frei zu äußern, auch mal Irrwege zu gehen und sich selbst korrigieren zu können“, sagt Hauke Straehler-Pohl, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Grundschulpädagogik der Freien Universität Berlin. Er hat „Mathalaxie“ mitentwickelt.
Ziel sei es, angehenden Lehrkräften einen alternativen Mathematikunterricht nahezubringen, der Kinder ganz natürlich mitreiße. „Das Konzept schafft eine neue Form von Kollektivität und Interaktion zwischen den Kindern, die auch für die Forschung hochspannend ist“, sagt Uwe Gellert, Professor für Grundschulpädagogik an der Freien Universität und Mentor bei Mathalaxie.
Internet der Dinge und Augmented Reality erobern den Klassenraum
Die ursprüngliche Idee zu „Mathalaxie“ hatten die Mathematiker Marta Vitalis und Felix Schwarz, die mittlerweile auf Grundlage des didaktischen Konzepts das Start-up „Mastory“ gegründet haben. „Wir möchten Lehrerinnen und Lehrern jetzt ein System an die Hand geben, mit dem sie auch im Schulalltag Abenteuer-Mathestunden gestalten können“, sagt Marta Vitalis. Dafür nutzt das vierköpfige Team neue Technologien wie das Internet der Dinge und sogenannte Augmented Reality im Klassenraum, zu Hause oder um beides im Hybridunterricht zusammenzuführen. Je nach Altersgruppe kann das Netzwerk speziell entwickelte Lerngeräte ohne Bildschirm einbinden oder bei den Älteren auch eigene Mobiltelefone und Tablets.
Das System koordiniert die Schüleraktivitäten, bewirkt einen konsistenten Verlauf der Geschichte und differenziert gleichzeitig den Schwierigkeitsgrad der mathematischen Herausforderungen entsprechend dem individuellen Leistungsstand der Lernenden. Da Technik gezielt dort eingesetzt wird, wo sie tatsächlich das Lernen erleichtert oder eine Funktion in der Geschichte erfüllt, gerät Digitalisierung nie zum Selbstzweck – entscheidend ist vor allem die Anregung der Vorstellungskraft, um die Relevanz der Mathematik erlebbar zu machen. Marta Vitalis erinnert sich an ihre eigene Schulzeit: „Für mich war Mathematik schon immer vor allem ein Spiel mit der Fantasie.“
„Die Zukunftsbauer“
Im Jahr 2021 plant „Mastory“ ein neues Projekt für benachteiligte Jugendliche in den USA sowie den Markteintritt in Deutschland; ein erster Probekurs zum Kennenlernen des spielerischen Ansatzes ist bereits online verfügbar. Eine weitere Ausgründung, die Innovation in die Schule bringen will, ist die Bildungsinitiative „Die Zukunftsbauer“. Sie unterstützt Schülerinnen und Schüler dabei, in Zeiten des globalen Wandels positive Visionen und Utopien zu entwickeln.
Aileen Moeck, die „Die Zukunftsbauer“ gemeinsam mit Jens Konrad ins Leben gerufen hat, stellte während ihres Masterstudiums Zukunftsforschung an der Freien Universität fest, dass die Fragen, mit denen sie sich dort beschäftigte, in Schulen viel zu wenig gestellt werden. Was passiert gerade auf der Welt? Und wo führt uns das hin? Wie gehe ich mit Unsicherheit und Komplexität um? Welche Auswirkungen hat mein jetziges Handeln auf die Zukunft?
Wie drängend diese Themen sind, merke sie, wenn sie mit Schülerinnen und Schülern spreche. Die Kinder und Jugendlichen machten sich Sorgen über Klimawandel, Umweltzerstörung, Rassismus und das soziale Miteinander. „Der Weltschmerz und die Frustration sind groß“, sagt Aileen Moeck. „Viele fühlen sich ohnmächtig.“ Das liege auch daran, dass es zu wenige Möglichkeiten für sie gebe mitzuwirken.
Um junge Menschen wieder dafür zu begeistern, neugierig und kreativ zu sein, haben die Gründer „Die Zukunftsreise“ für die Klassen 8 bis 10 konzipiert. Mithilfe dieser Materialien überlegen die Jugendlichen zunächst, wie eine Zukunft aussehen sollte, in der sie gerne leben würden. Anschließend reflektieren sie darüber, was getan werden müsste, damit diese real wird. Sie entwerfen neue Rollen und Berufsbilder, die zu dieser Mission beitragen könnten: der Baum-Dolmetscher, der im Parlament die Rechte des Waldes vertritt, die Hologramm- Architektin, der Hausmeister für gutes Miteinander oder die Organ-Laborantin, die mit einem 3-D-Drucker künstliche Nieren oder Lungen herstellt.
Bereits 2018 wurden „Die Zukunftsbauer“ beim Hochschulwettbewerb zum Wissenschaftsjahr mit dem Thema „Arbeitswelten der Zukunft“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) für ihre Idee mit 10000 Euro ausgezeichnet. Außerdem wurde den Gründerinnen und Gründern von „Mastory“ und „Die Zukunftsbauer“ ein Berliner Startup Stipendium verliehen, mit dem die Freie Universität, die Technische Universität, die Charité – Universitätsmedizin Berlin und die Humboldt-Universität Ausgründungen fördern.
In Zeiten von Corona haben es auch „Die Zukunftsbauer“ schwer. Die Schulen haben alle Veranstaltungen wegen der Pandemie abgesagt. Vorträge entfallen, Lehrerfortbildungen finden nicht statt. „Für gemeinnützige Organisationen gibt es kein Hilfspaket“, berichtet Aileen Moeck. Sie hofft, dass „Die Zukunftsbauer“ die Pandemie überstehen.