Die richtige Balance
Wie krisenfest ist der deutsche Sozialstaat? Finanzwissenschaftsprofessor Ronnie Schöb zieht Bilanz
29.09.2020
Bundesdeutsches Staatsziel. Was soll der Sozialstaat leisten? Die Kindergrundsicherung ist ein Vorschlag, sie würde Kinder unbhängig vom Einkommen ihrer Eltern absichern.
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Innerhalb von nur sechs Wochen 20 Millionen Arbeitslose: In den USA hat die Corona-Krise auch zahlreichen Menschen, die sich nicht am Virus angesteckt haben, die Lebensgrundlage entzogen. Die Pandemie hat die Wirtschaft weltweit erschüttert, doch die Auswirkungen sind unterschiedlich: In den USA geht hohe Arbeitslosigkeit meist mit dem Verlust von Krankenversicherung und manchmal sogar der Wohnung oder dem Haus einher. Für viele amerikanische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist die Krise existenzbedrohend. In Deutschland dagegen ist die Arbeitslosenquote nur geringfügig gestiegen, und wer arbeitslos wird, wird auf jeden Fall finanziell aufgefangen.
„Der deutsche Sozialstaat hat sich in der Corona-Krise bewährt“, sagt Ronnie Schöb. Der Professor für Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin forscht unter anderem zur Steuer-und Arbeitsmarktpolitik. In seinem kürzlich veröffentlichten Buch „Der starke Sozialstaat“, das sich an eine breite Öffentlichkeit richtet, unternimmt er eine Bestandsaufnahme des deutschen Sozialstaats.
„Einen guten Sozialstaat macht aus, dass sich die Bürgerinnen und Bürger sicher fühlen"
Sozialstaat bedeutet mehr als nur Hartz IV. Laut Grundgesetz ist er eines der deutschen Staatsziele, denen gemeinsam mit der Menschenwürde durch die „Ewigkeitsklausel“ ein besonderer Status eingeräumt wird. „Einen guten Sozialstaat macht aus, dass sich die Bürgerinnen und Bürger sicher fühlen, dass sie für sich selbst und ihre Angehörigen sorgen und ein menschenwürdiges Leben führen können“, sagt Ronnie Schöb. Dieser Fokus auf die Eigeninitiative bedeutet, dass die Instrumente des Sozialstaats vielfältig sind: von der Regulierung des Arbeitsmarktes über die Bildung bis hin zur Gesundheitspolitik, die in diesen Zeiten besonders viel Aufmerksamkeit erhält.
Sie sollen ermöglichen, dass die Menschen ihre Fähigkeiten entwickeln können und die Chance erhalten, sie einzusetzen. „Das gelingt allerdings nicht allen, da auch viel Glück dazugehört. Für diejenigen, die kein Glück haben, muss der Sozialstaat Sorge tragen“, sagt Ronnie Schöb. Eine tödliche Pandemie bedeutet besonders viel Pech. Das Virus hat den Welthandel ins Stocken gebracht, Einkommenseinbußen haben gleichzeitig die Konjunktur geschwächt. „Da ist sehr viel zusammengekommen“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler. Anders als die Finanzkrise von 2007, die in erster Linie eine Vertrauenskrise gewesen sei, ließen sich die Ursachen der aktuellen Krise nicht politisch bekämpfen.
Auch wenn man daher die Erfahrungen nicht einfach übertragen könne, habe sich ein Instrument der Bewältigung der vorherigen Krise nun erneut als nützlich erwiesen: Das Kurzarbeitergeld, das die Arbeitslosenquote in Deutschland nicht so schnell hat ansteigen lassen wie in den USA. Außerdem habe Deutschlands System der gesetzlichen Krankenkassen die Teststrategie gegen das Virus erleichtert.
Die bisher erfolgreiche Krisenbewältigung ist aber Ronnie Schöb zufolge nur möglich gewesen, weil Deutschland finanziell gut aufgestellt war. Um auch auf zukünftige Krisen vorbereitet zu bleiben, sei Disziplin notwendig: Die Sondermaßnahmen zur Krisenbewältigung müssten nach der Krise wieder zurückgenommen werden, auch wenn das politisch unbeliebt sei.
„Wir müssen uns von der Idee eines Vollversicherungsstaates verabschieden, der sich um alle Lebensbereiche umfassend kümmert, und auch von dem in den letzten Jahren ausufernden Klein-Klein der Sozialpolitik“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler. Um das inzwischen in die Jahre gekommene deutsche System zukunftsfest zu machen, auch angesichts einer alternden Gesellschaft, müsse sich der Sozialstaat zukünftig wieder stärker auf seine Kernaufgabe konzentrieren: die Existenzsicherung seiner Bürgerinnen und Bürger.
Das Sozialstaats-Dilemma: Balance finden zwischen Arbeitsanreiz und Fürsorge
Ein Grundkonflikt, der stets neu austariert werden müsse, sei das sogenannte Sozialstaats-Dilemma: Großzügige Sozialleistungen dürften nicht den Anreiz zur Arbeit nehmen; auch Geringverdiener sollten für ihre Leistung einen Vorteil erhalten, sagt Ronnie Schöb. „Wenn sich der Sozialstaat zu fürsorglich zeigt, untergräbt er die Bereitschaft zur Selbsthilfe und verstärkt damit die Probleme, die er eigentlich lösen will.“
In einer Demokratie sei überdies wichtig, dass sozialstaatliche Leistungen nicht nur theoretisch finanzierbar sind und wirtschaftlich nützlich verteilt werden. Das Systemmüsse auch als gerecht akzeptiert werden. „Jeder sollte sich verpflichtet fühlen, anderen in der Not zu helfen. Es sollte aber keiner das Gefühl haben, ausgenutzt zu werden“, sagt Ronnie Schöb.
In diesem Dilemma die richtige Balance zu finden, sei Sache der Politik. „Die Wirtschaftswissenschaft kann aber wichtige Argumente liefern“, sagt Ronnie Schöb. Solche will er beisteuern, ohne aber einem bestimmten politischen Lager zugerechnet zu werden: So bewertet er einerseits die umstrittenen Hartz-Reformen positiv und mahnt, dass das Prinzip „Fördern und Fordern“ gelten müsse; andererseits unterstützt er Vorschläge wie die Kindergrundsicherung, die Kinder unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern absichert. „Hier hoffe ich, dass ich mit meinen Vorschlägen Brücken schlagen kann“, sagt der Volkswirtschaftler.