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Demokratie und Wissenschaft

Kolumne des Präsidenten der Freien Universität

30.09.2020

Günter M. Ziegler, Präsident der Freien Universität

Günter M. Ziegler, Präsident der Freien Universität
Bildquelle: Maik Machals

Trotz der überwiegend wissenschaftsfeindlichen Rhetorik des amtierenden US-Präsidenten sind die Forschungsbudgets in den USA gestiegen. Auch China investiert in großem Stil in Wissenschaft und Forschung. In Europa jedoch stagnieren die Investitionen. Zwar hat der Europäische Rat mitten in der größten Krise der EU einen historischen Haushaltskompromiss errungen – die Erwartungen der Wissenschaft sind dabei aber enttäuscht worden.

Viele, die sich mehr erhofft haben, fragen sich nun, ob Europa die Chance auf eine starke wissenschafts- und forschungsgestützte Zukunft verspielt. Müssten nicht gerade angesichts der großen Herausforderungen unserer Zeit – Klimawandel, Pandemien und vieles mehr – auch bei uns Ressourcen ganz anderen Maßstabs bereitgestellt werden, um den Forschungs-, Wissenschafts- und Innovationsstandort Europa zu stärken und den ambitionierten Zielen wie Klimaneutralität im Jahr 2050 und dem Green New Deal gerecht zu werden?

Die Corona-Krise verdeutlicht, wie sehr unsere Zukunftsfähigkeit davon abhängt, dass Wissenschaft und Forschung aus der vollen Breite der Fächer schöpfen können: Die entscheidenden Fortschritte zu Therapien, Impfstoffforschung, lokaler und globaler Pandemiemodellierung sowie zu Gesundheitssystemen und gesellschaftlichem Zusammenhalt in allen Regionen der Welt kamen und kommen aus dieser Breite.

Die Impfstoffentwicklung zeigt, wie wichtig exzellente Grundlagenforschung für große Innovationen ist. Wirkt sich diese Erkenntnis auch positiv auf die Budgets der chronisch unterfinanzierten Universitäten in Deutschland aus? Politische Entscheidungsträger sollten die Wissenschaft ernsthafter unterstützen, indem sie etwa ein Renovierungs- und Infrastrukturprogramm auflegen – neben dem Pakt für Forschung und Innovation, der die Universitäten leider nicht abdeckt.

An solchen Investitionen könnte sich entscheiden, ob Deutschland sich zukünftig auf eigene Weltklasse-Universitäten und deren Wissen und Expertise stützen kann oder ob es im Schatten von China und den USA stehen wird. Nicht übersehen dürfen wir, dass handelnde Staaten auf die Validität wissenschaftlicher Aussagen angewiesen sind. Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung unterstützen die Politik darin, wichtige Entscheidungen zu treffen. Wissenschaft darf deshalb nicht durch gefühlte Wahrheiten ersetzt werden. Wenn wir Epidemien kontrollieren oder mit dem Klimawandel umzugehen lernen wollen, müssen wir uns diesen Aufgaben wissenschaftlich nähern. Das gilt auch für diejenigen, die Demokratie verstehen wollen.

Wozu es führen kann, wenn sich Wissenschaftsfeindlichkeit und Demokratiefeindlichkeit zusammentun, haben wir vor wenigen Wochen gesehen, als Demonstranten versuchten, das Reichstagsgebäude in Berlin zu stürmen. Als Präsident der Freien Universität Berlin, die im Jahr 1948 als Zeichen für die Wissenschaftsfreiheit gegründet wurde und die in den vergangenen Jahrzehnten wichtige Impulse für Offenheit, Gleichberechtigung und Demokratie gegeben hat, halte ich es für unabdingbar, dass wir uns mit aller Stärke für Demokratie und Wissenschaft einsetzen. Und das nicht nur in Berlin und in Deutschland, wo wir in diesen Tagen 30 Jahre deutsche Einheit feiern.