„Traditionelle Autoritäten brechen weg“
Neue Medien verändern die islamisch geprägte Welt und die Art, wie sie erforscht wird. In einem internationalen Forschungsprojekt werden die digitale Transformation in islamischen Gesellschaften sowie die eigene Praxis untersucht
19.06.2020
Der sogenannte Arabische Frühling, der im Dezember 2010 in Tunesien begann und sich schnell auf Libyen, Ägypten und Syrien verbreitete, wird vielfach als die erste digitale Revolution bezeichnet. „Die Rolle von sozialen Medien in der Rebellion wird zwar manchmal etwas überschätzt“, sagt Konrad Hirschler. „Plattformen wie Twitter und Facebook haben allerdings dazu beigetragen, dass sich die Bewegung derart ausbreiten konnte, in Syrien vor allem fernab großer Städte.“ Hirschler ist Professor für Islamwissenschaft an der Freien Universität. Nun beteiligt er sich an einem europaweiten Forschungsprojekt, in dem die Auswirkungen der digitalen Transformation auf islamische Gesellschaften erforscht werden. „Wir untersuchen, wie sich islamische Praktiken durch den technologischen Wandel verändern“, sagt er. „Aber auch, wie sich die Forschung über islamisch geprägte Gesellschaften durch digitale Methoden verändert.“
An dem von der Europäischen Union geförderten Projekt „Mediating Islam in the Digital Age“ (MIDA) sind neben der Freien Universität zahlreiche weitere Forschungseinrichtungen aus Deutschland, Spanien, Frankreich, Bosnien, Niederlande und Belgien beteiligt. 15 Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler arbeiten im Rahmen des Projekts an ihrer Promotion. Zusätzlich zur wissenschaftlichen Qualifikation erhalten sie Trainings und Praktika in außeruniversitären Institutionen wie Bibliotheken, Verlagen oder Medienhäusern. Projektpartner sind etwa das Centre Pompidou in Paris und der Fernsehsender Al Jazeera aus Katar.
Digitalisierung und wissenschaftliche Praxis
Eine der am Projekt beteiligten Nachwuchswissenschaftlerinnen ist Mahdieh Tavakol. Die iranische Wissenschaftshistorikerin spürt in ihrem Promotionsprojekt der Geschichte der Manuskriptsammlung des Theologen und Universalgelehrten Bahauddin Amili (1547 – 1621) nach. Seit Jahrhunderten befindet sich die Sammlung in der Zentralbibliothek am Imam-Reza-Schrein im iranischen Maschhad, einem zentralen Wallfahrtsort, der von einer einflussreichen religiösen Stiftung verwaltet wird. Vor einigen Jahren wurden die Manuskripte digitalisiert. „Das Ziel meiner Forschung ist es, den Weg der Sammlung von ihrer Entstehung bis zur Digitalisierung nachzuzeichnen“, sagt Mahdieh Tavakol. „Anhand dieser Geschichte möchte ich untersuchen, welche Auswirkungen die Digitalisierung auf wissenschaftliche Praxis und institutionelle Autorität hat.“
Autoritäten büßen an Macht ein
Die gesellschaftlichen Veränderungen durch die digitale Transformation ähnelten sich überall auf der Welt, sagt Konrad Hirschler. Ein zentrales Thema sei, dass bisherige gesellschaftliche Autoritäten durch digitale Medien zunehmend an Macht einbüßten. Das gelte für den Journalismus ebenso wie für religiöse Oberhäupter und Universitäten – und zeige sich gerade im Umgang mit Manuskripten ganz deutlich. „Ihre Erforschung war noch vorwenigen Jahren äußerst aufwendig und teuer“, sagt Konrad Hirschler. „Man benötigte gute Kontakte zu den Bibliotheken und entsprechende Fördermittel, um Reise- und Aufenthaltskosten zu bestreiten.“ Manuskriptforschung sei daher lange ein Privileg bereits etablierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gewesen. Mittlerweile jedoch, wo Digitalisate oft frei verfügbar im Internet kursierten, würden sich oft schon Masterstudierende in ihren Forschungsarbeiten mit einst raren Manuskripten auseinandersetzen. „Die Digitalisierung sägt also auch an meiner eigenen professoralen Autorität“, sagt Konrad Hirschler lachend. „Heute bin ich längst nicht mehr der Hüter über den Zugang zu solch schwer zugänglichen Schriften.“
Radikalisierung im Internet
Die Erosion von traditionellen Autoritätsstrukturen sei allerdings ein zweischneidiges Schwert. Während sie einerseits Raum für Demokratisierungen eröffne, könne sie andererseits auch Wegbereiter sein für Verschwörungstheorien, Hass und Hetze: „Digitale Medien bieten heute auch den krudesten Theorien einen riesigen Resonanzraum“, sagt Konrad Hirschler. „Im Internet radikalisieren sich heute Faschisten wie Islamisten gleichermaßen.“ Es sei enorm wichtig, dass sich auch die Wissenschaft stärker im digitalen Raum engagiere – auch das sei ein Ziel von MIDA.
Die Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, die im Rahmen des Projekts ausgebildet werden, wollen die digitalen Diskurse in der islamischen Welt nicht nur erforschen, sondern selbst mitgestalten. „Wir wollen keine Forschungsarbeiten schreiben, damit sie in Bibliotheken verstauben“, sagt Mahdieh Tavakol. „Wir wollen bewusst in den Austausch mit der Öffentlichkeit treten.“