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„Ehemalige Nationalsozialisten gab es hüben wie drüben“

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchen den Umgang mit ehemaligen Nationalsozialisten im Bildungswesen der DDR

06.05.2020

Blick auf die andere Seite. An der Berliner Mauer im April 1990, kurz nach den ersten freien Wahlen in der DDR.

Blick auf die andere Seite. An der Berliner Mauer im April 1990, kurz nach den ersten freien Wahlen in der DDR.
Bildquelle: picture alliance / dpa-Zentralbild

Peter-Adolf Thiessen machte Karriere in zwei Systemen. In der DDR war er ein hochdekorierter Wissenschaftler, Träger des Nationalpreises und Mitglied des Staatsrates. Dem 1957 gegründeten Forschungsrat der DDR stand er jahrelang vor und wurde anschließend dessen Ehrenmitglied. Auch als Nationalsozialist hatte es Thiessen weit gebracht: Mit seinem Eintritt 1925 war er ein frühes Mitglied der NSDAP, nach der Machtübernahme Hitlers leitete der Chemiker das Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie und wurde Mitglied des Reichsforschungsrates. Während der Zeit des Nationalsozialismus forschte Thiessen an Giftgas, nach Kriegsende in der Sowjetunion an der Atombombe.

Nationalsozialisten in höchsten Positionen

Der Fall Thiessen zeigt, dass in der DDR, dem antifaschistischen Selbstverständnis zum Trotz, Nationalsozialisten in höchste Positionen befördert wurden. Thiessens Biografie ist schon länger bekannt, aber ist sie eine Ausnahme? Welche Rolle spielten ehemalige Nationalsozialisten in der DDR – gab es sie sogar in Führungspositionen in wichtigen Ministerien? Um diese Fragen zu beantworten, untersucht ein Team des Forschungsverbunds SED-Staat der Freien Universität Berlin, wie viele NSDAP-Mitglieder in Bildung und Wissenschaft der DDR beschäftigt waren und welche Funktionen sie dort einnahmen.

Auftraggeber der Studie ist das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unter der damaligen Ministerin Johanna Wanka. Das BMBF folgt dem Beispiel anderer Ministerien: Vor zehn Jahren erschien beispielsweise „Das Amt und seine Vergangenheit“, ein vielbeachteter und kontrovers diskutierter Bericht über die Rolle des Auswärtigen Amtes während und nach der nationalsozialistischen Herrschaft. Seither haben viele andere öffentliche Einrichtungen Untersuchungen ihrer eigenen Geschichte in Auftrag gegeben.

Neu ist, auch die Institutionen in der DDR gesondert unter die Lupe zu nehmen: In Bildung und Wissenschaft waren das vor Gründung der DDR die Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung und von 1949 an das Ministerium für Volksbildung. Dessen Abteilung für Hochschulen und Wissenschaft wurde 1951 in das Staatssekretariat für Hochschulwesen umgewandelt, das 1967 den Status eines Ministeriums erhielt. Zu den zentralen Wissenschaftseinrichtungen der DDR gehörten die Akademie der Wissenschaften und der Forschungsrat, in dem Thiessen eine maßgebliche Rolle gespielt hat.

Der Mythos der Entnazifizierung

Ehemalige Nationalsozialisten in der DDR – eine Unmöglichkeit, glaubt man der Selbstdarstellung der DDR-Führung. Die DDR pflegte den Ruf, in der Nachkriegszeit unnachgiebig entnazifiziert zu haben. „Von diesem Mythos zehrte der ostdeutsche Staat bis zu seinem Ende“, sagt Petra Rentrop-Koch, eine der drei Forscherinnen, die unter Leitung des Professors der Politikwissenschaft Klaus Schroeder an der Studie arbeiten.

Zweifel daran habe es schon zu DDR-Zeiten gegeben: „Ein zeitgenössisches Diktum lautete: ‚Die SED ist ein großer Freund der kleinen Nazis’“, sagt die promovierte Historikerin. Wie sich nach der Öffnung der ostdeutschen Archive zeigte, engagierte sich die SED aus pragmatischen, machtpolitischen Gründen und mit Billigung Moskaus tatsächlich bereits frühzeitig für eine gesellschaftliche und politische Integration früherer NSDAP-Angehöriger. Schätzungen zufolge lag deren Anteil unter den SED-Mitgliedern in den 1950er Jahren bei etwa zehn Prozent.

Zehn Prozent waren NSDAP-Mitglieder

Das Team der Freien Universität hat das Personal des DDR-Bildungsministeriums und seiner Vorgängerinstitution in einer Datenbank erfasst und sie mit den NSDAP-Mitgliederkarteien im Bundesarchiv Berlin abgeglichen. Vorläufige Ergebnisse zeigen, dass in der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung bis zu zehn Prozent des leitenden Personals ehemals Mitglied der NSDAP gewesen waren. Endgültige, belastbare Zahlen für das Ministerium für Volksbildung liegen noch nicht vor, aber eine signifikante Anzahl ehemaliger Parteigenossen gab es auch hier. Bereits jetzt ist klar, dass der entsprechende Prozentsatz zwischen den einzelnen Abteilungen variierte: Im Jahr 1952 waren die Leitungsebenen der Abteilungen Planung und Investition sowie Jugendhilfe/Heimerziehung jeweils zur Hälfte mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern besetzt; in der Hauptabteilung Unterricht und Erziehung, in der unter anderem Lehrpläne erarbeitet wurden, betrug der Anteil 26 Prozent.

Da in diesen groben Zahlen sehr unterschiedliche Fälle zusammengefasst sind, recherchiert das Forscherteam nun zu einzelnen Biografien. Zwar gibt es wenige Personalakten aus dem Ministerium, doch im Bundesarchiv werden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fündig, etwa in der Parteikorrespondenz der NSDAP.

Auch im Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes finden sich viele Informationen, die jedoch dem Team bisher nicht vollständig zugänglich gemacht wurden. Ein wichtiger Aspekt bei der Einordnung der Forschungsergebnisse ist der Begriff der Belastung: Was sagt es über eine Person aus, wenn sie Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Massenorganisationen war?

Opfer als Selbstbild

Auf der einen Seite handelte es sich damals um eine bewusste Entscheidung für die Partei: Denn aus Zwang oder ohne Kenntnis war niemand Mitglied geworden. „Die NSDAP war keine Massenpartei. Sie sah sich als Elite und ließ nicht jeden hinein“, sagt Petra Rentrop-Koch. Auf der anderen Seite gab es auch Fälle von Mitgliedern, die aus der Partei wieder austraten oder ausgeschlossen wurden. Viele Führungskräfte im DDR-Ministerium wurden erst in den 1920er Jahren geboren, waren für ihre Position also sehr jung und fielen unter die Jugendamnestie 1947. Hatten sie eine nationalsozialistische Vergangenheit, wurde ihnen das offenbar nicht angelastet. „Die Jugend galt in der DDR als Opfer des Nationalsozialismus, als fehlgeleitet, nicht als verstrickt“, sagt Petra Rentrop-Koch.

Das Forschungsteam unterscheidet die ehemaligen NSDAP-Mitglieder nach drei Kriterien: Manche hatten ihre NSDAP Mitgliedschaft erfolgreich verschwiegen. Eine zweite Gruppe waren Personen, deren Expertenwissen als unverzichtbar galt; nach dem Krieg habe ein erheblicher Fachkräftemangel bestanden, erklärt die Historikerin. Im Bildungsbereich seien die Schwierigkeiten, unbelastetes Personal zu finden, besonders groß gewesen, denn bis zu 90 Prozent der Lehrer waren zur Zeit des „Dritten Reichs“ im nationalsozialistischen Lehrerbund organisiert.

Zur dritten Gruppe zählen Personen, die in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern eine sogenannte Antifa-Schulung durchlaufen haben: einen mehrwöchigen Crashkurs in den ideologischen Grundlagen des Marxismus-Leninismus. „Sie galten der SED danach als geläutert und hatten auch eine gewisse Vorbildfunktion: An ihrem Beispiel wollte man zeigen, dass man Menschen umerziehen kann“, sagt Petra Rentrop-Koch.

Der Umerziehungsgedanke ist ein Beispiel für die schwierige Frage, ob Kontinuitäten nicht nur personell bestanden, sondern auch ideell. Sowohl im Nationalsozialismus als auch im Kommunismus war die Erziehung zu einem neuen Menschen Ziel – in der DDR von den 1960er Jahren an unter der Formel „Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit“. „Es gibt in der Forschung unterschiedliche Meinungen dazu, ob das als Kontinuität zu werten ist“, sagt Petra Rentrop-Koch.

Karriere als ehemaliges NSDAP-Mitglied

Fest steht, dass ehemalige NSDAP-Mitglieder auch im DDR-Bildungs- und Hochschulwesen Karriere machen konnten. Wie die Bundesrepublik sei die DDR auch eine postnationalsozialistische Gesellschaft gewesen, sagt die Wissenschaftlerin. „Frühere Parteigenossen gab es hüben wie drüben. Der Aufbau eines neuen politischen und gesellschaftlichen Systems schien den Entscheidungsträgern in vielen Bereichen ohne die Integration nationalsozialistisch Belasteter in die Funktionseliten nicht möglich – auch wenn die Zahlen in der DDR insgesamt betrachtet wahrscheinlich niedriger lagen als in der Bundesrepublik.“