Ein Antibiotikum gegen Depression?
Eine multizentrische Studie prüft die Wirksamkeit von Minocyclin bei Patienten, denen herkömmliche Therapien nicht helfen
05.06.2019
Jede vierte Frau und jeder achte Mann in Deutschland, so schätzen Experten, erleiden im Laufe ihres Lebens einmal oder sogar mehrfach eine Depression. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO sind weltweit mehr als 300 Millionen Menschen betroffen – vor allem in den modernden Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften.
„Zwar stehen effektive und gut verträgliche Arzneimittel gegen mittelschwere und schwere Depressionen zur Verfügung. Doch rund ein Drittel der Patienten spricht auf diese Medikamente leider nicht an“, sagt Professorin Isabella Heuser, Leiterin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité – Universitätsmedizin Berlin auf dem Campus Benjamin Franklin.
Depressionen, ausgelöst etwa durch Stress, Beziehungsprobleme, Scheidung oder den Verlust eines nahen Angehörigen, sind Erkrankungen, die mit körperlichen Veränderungen einhergehen. So gehören zum depressiven Beschwerdebild neben Niedergeschlagenheit, Schlafproblemen, Erschöpfung, Antriebslosigkeit, Mangel an Appetit, Libidoverlust und dem Gefühl, nur noch „auf Autopilot“ arbeiten können, auch Veränderungen im Hormonspiegel, was bei Frauen zum Beispiel zum Ausbleiben der Monatsblutung führen kann. Aber das ist nicht alles.
„Wir wissen inzwischen, dass bei einem Teil der Patienten das Immunsystem aktiviert ist. Und das, obwohl keine Infektion durch Bakterien, Viren oder Pilze vorliegt.“ Isabella Heuser und einige Kolleginnen und Kollegen vermuten, dass davon genau das Drittel der Patienten betroffen ist, denen eine herkömmliche antidepressive Therapie nicht hilft.
Noch ist unklar, was Ursache und was Wirkung ist: Wird durch Stress zuerst das Immunsystem aktiviert und löst die Depression aus? Oder werden durch eine Depression vermehrt Stresshormone ausgeschüttet, die das Immunsystem stimulieren? Stressantwort und Immunantwort sind bekanntermaßen eng miteinander verflochten.
„Auch wenn wir die pathophysiologische Kausalkette noch nicht aufzeigen können: Das bedeutet nicht, dass wir nicht versuchen können, das überaktive Immunsystem zu beruhigen“, sagt Heuser, „und zwar mit Minocyclin, einem bewährten und gut verträglichen Antibiotikum aus der Gruppe der Tetracycline.“ Es wirke nicht nur antibakteriell, sondern auch entzündungshemmend und neuroprotektiv, schütze also Nervenzellen und -fasern.
Anders als die meisten anderen Antibiotikakann Minocyclin die Blut-Hirn-Schranke überwinden, die das Gehirn normalerweise vor Krankheitserregern oder Stoffen schützt, die im Blut zirkulieren. Das ist in diesem Fall entscheidend, denn das Gehirn hat sein eigenes Immunsystem, was ebenfalls aktiviert wird, wenn der Körper entzündungsfördernde und entzündungshemmende Botenstoffe, die sogenannten Zytokine, ausschüttet.
„Aus Tierstudien wissen wir, dass Mäuse, die experimentell depressiv gemacht wurden, aktivierte Immunzellen im Gehirn haben. Nach Minocyclin-Gabe vermindert sich deren Aktivität deutlich“, sagt Isabella Heuser. Eine kanadische Studie aus dem Jahr 2017 hat die gute antientzündliche Wirkung des Antibiotikums auf das Gehirn von Patienten mit Multipler Sklerose gezeigt. Auch Pilotstudien mit depressiven oder bipolaren Probanden gab es bereits. Sie verliefen ebenfalls vielversprechend.
Die Psychiaterin leitet derzeit eine multizentrische Doppelblindstudie, um die Wirksamkeit von Minocyclin bei Depression an 160 Probanden zu erforschen. Dabei wissen weder die Versuchsleitung noch der Patient, wer den Wirkstoff und wer ein Placebo erhält. Beteiligt sind neben der Freien Universität Berlin die Universitätskliniken in Aachen, Erlangen, Frankfurt, Göttingen, München und Regensburg sowie das Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. Minocyclin wird seit langem erfolgreich gegen Akne und Rheuma eingesetzt und zeigt kaum Nebenwirkungen.
Was passiert eigentlich im Gehirn, wenn dessen Immunsystem auf die Barrikaden geht? „In bestimmten Hirnarealen, wie dem Limbischen System, das unsere Emotionen reguliert, beeinflussen Zytokine die Wirkung von Botenstoffen wie Dopamin, Noradrenalin und Acetylcholin“, erläutert Isabella Heuser.
„Das führt zu Verhaltensänderungen.“ Störungen des Limbischen Systems, das übrigens auch für die Ausschüttung von Glückshormonen (Endorphinen) verantwortlich ist, werden als Ursache verschiedener Erkrankungen angesehen, darunter posttraumatische Belastungsstörungen, Autismus und eben auch Depressionen.
Das Immunsystem ist aktiviert, obwohl keine Infektion vorliegt
Menschen, die mit einer echten Infektion kämpfen – etwa einer Grippe – zeigen ebenfalls ein verändertes Verhalten: Sie fühlen sich schlapp, energielos, habenwenig Appetit, ziehen sich zurück, und sind kaum noch arbeitsfähig. Symptome, die denen einer Depression stark ähneln, was für die Theorie eines Zusammenhangs zwischen Depression und aktiviertem Immunsystem spricht.
Die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer erhalten über sechs Wochen eine gleichbleibende Dosis Minocyclin und werden in dieser Zeit einmal wöchentlich ausführlich zu ihrem Befinden befragt. Nach sechs Monaten werden sie erneut einbestellt. Vor und nach der Antibiotikatherapie wird ihnen Blut abgenommen und auf alle bekannten Zytokine hinuntersucht.
„Wir hoffen, am Ende zeigen zu können, dass Probanden, die diese Entzündungsmarker haben, tatsächlich positiv auf das Antibiotikum reagiert haben“, erklärt Isabelle Heuser. Im Idealfall zeige sich bei ihnen sogar ein ganz spezifisches Zytokin-Muster. Sollte Minocyclin den Erwartungen entsprechen und bald auch als Medikament gegen Depression zugelassen werden, könne dieses Muster im Blut eines Patienten – so hofft die Professorin – vorab ein sicherer Hinweis auf den Therapieerfolg sein.
Noch bis September 2019 können sich Interessierte für die ambulante Minocyclin-Studie bei der Studienärztin Vera Clemens melden (E-Mail: vera.clemens@charite.de). Voraussetzung für eine Teilnahme ist, dass zuvor zwei abgeschlossene antidepressive Therapieversuche mit unterschiedlicher Medikation fehlgeschlagen sind. Mit den Ergebnissen der Studie ist Anfang 2020 zu rechnen.