Die unterschätzte Gefahr
In einem Sonderforschungsbereich arbeiten Wissenschaftler an Antworten zu bisher ungelösten Fragen bei Lungenentzündungen
12.02.2015
740 000 Menschen erkranken in Deutschland jedes Jahr außerhalb eines Krankenhauses an einer Lungenentzündung. Etwa ein Drittel von ihnen so schwer, dass sie stationär behandelt werden müssen. Trotzdem überleben zwölf Prozent die Infektion nicht. „Damit nimmt die Pneumonie einen ähnlich schweren Verlauf wie Herzinfarkt und Schlaganfall“, sagt Norbert Suttorp, Direktor der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Infektiologie und Pneumologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin, dem gemeinsamen medizinischen Fachbereich von Freier Universität und Humboldt-Universität. Warum ist die Sterblichkeit trotz des medizinischen Fortschritts so hoch – und was kann man dagegen tun?
Das untersuchen Wissenschaftler im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereiches (SFB) Transregio 84. „Angeborene Immunität der Lunge“ heißt der SFB, der gerade in die zweite Förderrunde geht. Neben der Charité beteiligt sind die Freie Universität Berlin, die Universitäten Marburg und Gießen, das Robert- Koch-Institut, das Berliner Max-Planck-Institut (MPI) für Molekulare Genetik sowie das MPI für Kolloid und Grenzflächenforschung in Potsdam.
Resistenzen hierzulande noch kein allzu großes Problem
Die Wissenschaftler untersuchen etwa, wo genau die Krankheitserreger im Körper angreifen, wie das Immunsystem des Menschen auf die Infektion reagiert und wie sich der Krankheitsverlauf besser einschätzen lässt. „Resistenzen des wichtigsten Erregers – der Pneumokokke – gegenüber Penicillin sind hierzulande im Gegensatz zu den USA, Frankreich und Italien noch kein großes Problem“, sagt SFB-Sprecher Suttorp. Deshalb geht es in den 19 Einzelprojekten auch nicht um neue Antibiotika, sondern um ein detailliertes Verständnis davon, was eigentlich in der Lunge passiert, wenn eine Pneumonie entsteht.
Klar ist: Das Organ muss Schwerstarbeit leisten. „Es muss den Erreger eliminieren, aber gleichzeitig in jeder Sekunde den Gasaustausch in den Lungenbläschen aufrechterhalten“, sagt Suttorp. Dank der sogenannten High-End-Mikroskopie können die Forscher den Alveolen, wie die Lungenbläschen auch heißen, bei der Arbeit zusehen, und das nicht nur beim Kampf gegen Pneumokokken. Ein zentrales Technikprojekt entwickelt und unterstützt sie dabei mit modernsten bildgebenden und histologischen Verfahren.
Da Befunde von Labormäusen nicht ohne Weiteres auf den Menschen übertragbar sind, nutzen die Forscher humanes Gewebe, um wichtige, aus dem Tierversuch gewonnene Ergebnisse auf ihre Relevanz für den Menschen überprüfen zu können. Dafür werden gesunde Geweberänder von Lungenlappen, die zuvor Tumorpatienten entnommen wurden, im Labor mit Erregern der Lungenentzündung infiziert und untersucht. Weiterentwicklungen zielen darauf ab, mithilfe eines feinen Wasserstrahls besonders dünne Gewebeschnitte zu erhalten. Lange war unklar, welcher Lungenzelltyp etwa vom Influenza-Virus angegriffen wird. „Unter dem Mikroskop sehen wir nun die Viren in den Alveolen umherflitzen und können erkennen, dass es nur die sogenannten Typ-II-Epithelzellen sind“, erläutert Suttorp.
Das Risiko, an MERS-Corona zu sterben, liegt bei 50 Prozent
Derzeit untersuchen die Forscher ein Corona-Virus aus der sogenannten MERS-Gruppe. MERS steht für Middle East Respiratory Syndrome und bezeichnet eine Infektion der Atemwege, die durch ein neuartiges Corona-Virus ausgelöst wird. „Geben wir das Virus auf unsere Gewebeproben, wird wirklich alles in den Bläschen infiziert.“ Das erkläre die Tatsache, dass das Risiko, an MERS-Corona zu sterben, bei 50 Prozent liege, meint Suttorp. Experimente wie diese helfen, Infektionsmechanismen aufzuklären und verbesserte Therapien zu entwickeln. Ganz neu ist der Befund, dass die Lunge nicht steril ist, sondern – ähnlich wie der Darm – von Mikroorganismen besiedelt. Was machen die Organismen dort? Wie interagieren sie? Haben sie vielleicht eine Schutzfunktion?
Auch diesen Fragen gehen die Wissenschaftler des Sonderforschungsbereichs nach. Ein Sonderfall ist die Lungenentzündung, die häufig nach einem Schlaganfall auftritt. „Man nahm bisher an, es handle sich dabei um eine sogenannte Aspirationspneumonie, also eine Lungenentzündung, die durch Schluckstörungen verursacht wird“, sagt Suttorp. Doch das stimme nicht. „Schlaganfallpatienten haben eine Immunparalyse – vor allem in der Lunge.“ Das Immunsystem fällt quasi in eine Schockstarre, und ein Bruchteil der üblichen Anzahl Keime reicht nun aus, um eine Entzündung hervorzurufen. Das Immunsystem muss mit seinen Ressourcen haushalten, es setzt seine Waffen deshalb stufenweise ein. „Schwimmt nur ein einzelnes bakterielles Molekül im Blut, ist nicht viel Abwehr nötig“, erläutert Suttorp. Sei jedoch etwas Größeres darunter, könnte es ein Bakterium sein, und der Organismus reagiert mit Abwehr.“
Charité-Forscher entdeckten, dass der Körper sogar feststellen kann, ob ein Eindringling tot ist oder lebt. Lebt er, sucht das Immunsystem nach sogenannten pathogenassoziierten Molekülmustern im Körper, also quasi weiteren Lebenszeichen des Krankheitserregers. Wird die Abwehr fündig, löst sie „roten Alarm“ aus. Eine Erkenntnis, die sich für neue Impfstoffe nutzen lässt: Lebendimpfstoffe sind effektiver als Vakzine auf Basis abgetöteter Erreger – aber weniger leicht in der Handhabung, weil sie lückenlos gekühlt werden müssen.
„Wir versuchen, einen Totimpfstoff gegen Pneumokokken herzustellen und ihm pathogenassoziierte Molekülmuster zuzufügen, die aus RNA-Schnipseln des Bakteriums bestehen.“ Letztere gaukeln dem Immunsystem vor, ein lebender Erreger sei eingedrungen, sodass es schwerere Geschütze auffährt. Experten empfehlen Menschen, die 60 Jahre und älter sind, übrigens ausdrücklich eine Pneumokokken-Impfung, weil das Infektionsrisiko von diesem Alter an stetig steigt.
Bei welchen Patienten nimmt die Infektionen einen schweren Verlauf?
Da die Bakterien auch für Hirnhaut- und Mittelohrentzündung verantwortlich sind, werden heute schon Kleinkinder immunisiert. Davon profitierten auch Oma und Opa, sagt Suttorp: „Eine Studie in den USA zeigt, dass die Pneumonie-Rate bei Großeltern sinkt, wenn die Enkel geimpft worden sind.“ Ärzte wünschen sich händeringend Parameter, anhand derer sie frühzeitig beurteilen können, bei welchem Patienten die Infektion voraussichtlich einen schweren Verlauf nehmen wird. Genotypologisierung ist deshalb ein weiteres Stichwort für die SFB-Wissenschaftler: Wie unterscheiden sich die Gene von Menschen, die einen sehr schweren Krankheitsverlauf mit Blutvergiftung haben und deshalb intensivmedizinische Betreuung benötigen, von denen mit leichtem Verlauf? Gesucht wird auch nach weiteren Biomarkern im Blut, die den aktuellen Status der Erkrankung anzeigen und ihren Verlauf vorhersagen.
Welche große Rolle das eigene Immunsystem bei der Bekämpfung einer Lungenentzündung spielt, zeigte bereits die allererste Antibiotika-Studie bei Pneumokokken-Pneumonie, 1938 veröffentlicht im Journal The Lancet. Hundert Patienten wurden mit einem Sulfonamid behandelt, eine gleich große Kontrollgruppe bekam nur ein Placebo. Ohne Therapie überlebten 70 Patienten – mit Antibiotikum 90. „An den letzten zehn Prozent arbeiten wir bis heute“, sagt Suttorp. „Antibiotika sind wichtig. Man wird sie immer geben müssen. Doch wir brauchen zusätzliche Therapien, die dem Körper helfen zurechtzukommen, auch wenn die Bakterien bereits abgestorben sind.“