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Der Campus scheint jeden Tag zu wachsen

Voller Neugier: Josefine Janert 1991 als junge Studentin an der Freien Universität. Heute arbeitet sie als Journalistin in Berlin.

Voller Neugier: Josefine Janert 1991 als junge Studentin an der Freien Universität. Heute arbeitet sie als Journalistin in Berlin.
Bildquelle: privat (li.)/castingfoto.de

Vor 25 Jahren öffnete sich die Mauer. Viele junge Frauen und Männer aus der DDR begannen damals ein Studium an der Freien Universität Berlin. Für fast alle war es akademisches und kulturelles Neuland, auch für Josefine Janert. Eine Rückschau.

Wedding ist voller Autos, die sich aus Pankow kommend in Richtung Westen vorarbeiten. Bis der Bus endlich am U-Bahnhof Osloer Straße angelangt ist, ist eine Ewigkeit verstrichen. Dann folgt der lange Weg nach Dahlem, zur Freien Universität Berlin. Da die Verkehrsverbindungen zwischen Ost- und Westberlin im April 1991 noch nicht gut ausgebaut sind, brauche ich jeden Morgen zwei Stunden mit der Straßenbahn, dem Bus und der U-Bahn von der Wohnung meiner Eltern in Pankow nach Dahlem. Abends noch einmal.Ich verbringe unendlich viel Zeit damit, zu verschiedenen Bibliotheken zu fahren. Aber die Wege lohnen sich.

An der Freien Universität bin ich für zwei Fächer eingeschrieben, für die in der DDR strenge Zulassungsbeschränkungen galten: Soziologie und Skandinavistik. Alle zwei Jahre wurde an der Uni Greifswald nur eine Handvoll Studenten für Nordeuropawissenschaften immatrikuliert, wie das Fach in der DDR hieß. Bei Soziologie war es ähnlich. An der Freien Universität darf sich einschreiben, wer Abitur hat und wer sich für das Fach interessiert. Weder für Skandinavistik noch für Soziologie gibt es einen Numerus Clausus, einen NC.

Tag der Immatrikulation war etwas Besonderes

Der Tag im Februar oder März 1991, an dem ich mich in Dahlem einschreibe, ist für mich ein Festtag. Ich ziehe meine besten Sachen an. Aber das interessiert keinen. Die Immatrikulation ist ein formaler Akt, weiter nichts. Ich bin froh, dass es einen Einführungstag für Erstsemester gibt. Er wird von den Studenten organisiert. Am Institut für Soziologie erkenne ich gleich, wer auch aus dem Osten kommt. Ein junger Mann fragt nach Unisport und nach Sprachunterricht. Beides war in der DDR obligatorisch für alle Studenten.

Die Soziologie-Studenten finden seine Frage lustig. Der Campus der Freien Universität ist riesig, und es gibt keine Seminargruppen. In der DDR war es üblich, dass Studenten eines Jahrgangs zusammen lernten und ihre Freizeit verbrachten. Mein Bruder, der an der Humboldt-Uni Medizin studiert hat, fragt mich immer wieder, wie meine Seminargruppe so ist. Er kann nicht glauben, dass ich keine habe. Mir gefällt das auch nicht.

Meine Kommilitonen wohnen über die Stadt verstreut. Sie zu fragen, ob sie mal mit ins Kino kommen, das traue ich mich nicht. Sie hängen in Dreier- und Vierergrüppchen zusammen und scheinen sich seit Ewigkeiten zu kennen. Ich bin froh, dass meine Freundin aus Pankow mit mir studiert. In den Pausen zwischen den Seminaren hängen wir zusammen und trinken Kaffee. Überhaupt: Kaffee. Den gibt es überall und ständig, und den bringen wir auch ins Seminar mit. Häufig kommt jemand zu spät oder geht früher. Einmal bringt am Institut für Soziologie eine Studentin ihren Hund mit in die Vorlesung. Undenkbar in Leipzig, wo ich zuvor anderthalb Jahre studiert hatte!

Die Bewilligung von Bafög-Anträgen dauerte

Einige Skandinavistik-Studenten waren schon als Au-pair in Schweden. Im Anfängerkurs Schwedisch parlieren sie mit unserem Dozenten, so als bräuchten sie gar keinen Anfängerkurs mehr. In den Bibliotheken stehen Bücher, von denen ich mir nie hätte träumen lassen, dass ich sie mal lesen darf. Alexander Solschenizyns „Der Archipel Gulag“ zum Beispiel, ein Buch über den Stalinistischen Terror.

Alles ist sehr verheißungsvoll, die im Vorlesungsverzeichnis angekündigten Kurse, die Aushänge an der Uni, die zu weiteren Veranstaltungen einladen. Ständig wird meine Neugier geweckt. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass das alles zu viel ist. Der Campus scheint jeden Tag weiter zu wachsen. Eine Bekannte von mir hatte sich schon zum Sommersemester 1990 für Politikwissenschaft eingeschrieben. Da war sie noch DDR-Bürgerin, und bis zur Währungsunion war es noch lange hin. Sie stellte einen Bafög-Antrag, aber das Westgeld wurde ihr erst nach mehreren Monaten bewilligt. In der Zwischenzeit borgte sie sich Geld von ihrer Oma, um Bücher fürs Studium zu kaufen.

Mensa? War bei ihrem begrenzten Budget nicht drin. Dieses Problem habe ich ein Jahr später nicht mehr. Aber ich bin trotzdem heilfroh, als im August 1991 endlich meine Bafög- Nachzahlung eintrifft. Ich lebe jetzt illegal in einer Hinterhofwohnung im Prenzlauer Berg. Jedes Mal, wenn ich den Keller betrete, habe ich Angst, dass das Haus über mir einstürzt, so marode ist es. Aber zur Freien Universität brauche ich nur noch eine gute Stunde. Ich bin angekommen im Westen – fast.