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„Wir benötigen Initiative von politischer Seite“

Karl Max Einhäupl und Peter-André Alt im Gespräch über die Berliner Hochschulmedizin

Das Klinikum auf dem Campus Benjamin Franklin in Steglitz ist einer von vier Standorten der Charité – Universitätsmedizin Berlin.

Das Klinikum auf dem Campus Benjamin Franklin in Steglitz ist einer von vier Standorten der Charité – Universitätsmedizin Berlin.
Bildquelle: Charité – Universitätsmedizin Berlin

Die Charité gehört zu den größten Universitätskliniken Europas. Hier arbeiten Spitzenforscher und lernen die Medizinstudenten von Freier Universität Berlin und Humboldt-Universität zu Berlin. Der Vorstandsvorsitzende der Charité-Universitätsmedizin Berlin, Professor Karl Max Einhäupl, und der Präsident der Freien Universität Berlin, Professor Peter-André Alt, im Gespräch über Gemeinsames und Trennendes, Machbares und Wünschenswertes in der Berliner Hochschulmedizin.

Herr Einhäupl, der Name Charité ist international bekannt. Was viele nicht wissen: Die Charité ist die gemeinsame medizinische Fakultät der Freien Universität und der Humboldt-Universität. Welche Rolle spielen die Universitäten für die Charité?

KARL MAX EINHÄUPL: Die Charité braucht die Universitäten und umgekehrt. Wenn Sie heute in der Forschung Anträge für große Verbundforschungsprojekte stellen, dann benötigen Sie eine kritische Masse an Wissenschaftlern. Durch die Verbindung der Charité mit den Hochschulen ist diese Masse einfach viel größer, und damit steigen auch die Erfolgschancen bei Förderanträgen für Forschungsprojekte. Das zeigen die vielen Sonderforschungsbereiche, in denen die Freie Universität und die Charité erfolgreich zusammenarbeiten. Zweitens ist die Strategiefähigkeit damit eine ganz andere. Alle Universitäten in Europa müssen sich heute Gedanken machen, wie sie die nächsten 20 Jahre gestalten. Deshalb ist es wichtig, dass wir gemeinsam Strategien entwickeln, für die Universitäten und insbesondere auch für die Medizin. Und der dritte Punkt ist, dass die Universitäten die medizinischen Fakultäten dringend brauchen, weil alle Universitäten lebenswissenschaftliche Aktivitäten in großem Umfang haben. Das kann man sich nicht ohne Medizin vorstellen.

PETER-ANDRÉ ALT: Ich bin da derselben Meinung. Wenn man sieht, wie sich in den naturwissenschaftlichen Grundlagenfächern die Forschungsthemen in den vergangenen 20 Jahren entwickelt haben, dann geht vieles in Richtung Lebenswissenschaften. Deswegen ist es für uns existenziell, mit dem starken Forschungspartner Charité in einem festgefügten und gut organisierten institutionellen Verbund zusammenzuarbeiten. Es geht nicht nur um gemeinsame Forschungsprojekte, sondern auch um eine Synthese methodischer Art, die es früher nicht gegeben hat. Zum Beispielwerden in der Orthopädie, aber auch in vielen anderen medizinischen Bereichen, Methoden der angewandten Mathematik benötigt und eingesetzt.
Wir schätzen die enge Verzahnung von Grundlagenforschung und klinischer Forschung. Die Freie Universität ist an fünf Sonderforschungsbereichen der Charité beteiligt, umgekehrt gibt es bei den sieben naturwissenschaftlichen Sonderforschungsbereichen der Freien Universität ganz wenige, in denen nicht auch Kolleginnen und Kollegen aus der Charité mitwirken.

Eng verbunden: Der Literaturwissenschaftler Peter-André Alt (linkes Bild) steht seit 2010 an der Spitze der Freien Universität, Neurologe Karl Max Einhäupl wurde 2008 Vorstandsvorsitzender der Charité – Universitätsmedizin Berlin.

Eng verbunden: Der Literaturwissenschaftler Peter-André Alt (linkes Bild) steht seit 2010 an der Spitze der Freien Universität, Neurologe Karl Max Einhäupl wurde 2008 Vorstandsvorsitzender der Charité – Universitätsmedizin Berlin.
Bildquelle: David Ausserhofer (li.), Wiebke Peitz, Charité – Universitätsmedizin

Sie betonen beide die Gemeinsamkeiten. Dennoch kritisieren Sie, Herr Alt, dass Charité und Universitäten sich zu weit voneinander entfernt hätten.Unter anderem fordern Sie, die Präsidenten der beiden Universitäten sollten im Aufsichtsrat der Charité sitzen. Teilen Sie diese Ansicht, Herr Einhäupl?

EINHÄUPL: Ich bin nicht sicher, dass wir wirklich auseinandergerückt sind. Zum einen besitzen alle medizinischen Fakultäten an deutschen Universitäten ein höheres Maß an Selbstständigkeit, das ist nicht ungewöhnlich. Zumanderen schmälert die  besondere Situation mit den zwei Träger-Universitäten die Identifikation: Man hat zwei Eltern und fühlt sich zu keinem alleine hingezogen. Was den Aufsichtsrat angeht, hat die Politik in Berlin lange vor meiner Zeit entschieden, dass die beiden Universitätspräsidenten keinen Sitz mehr im Aufsichtsrat haben sollen, weil es Eigeninteressen der beiden Präsidenten gegeben hatte. Ich bin nicht grundsätzlich dagegen, dass die Präsidenten im Aufsichtsrat sind. Wenn es aber dazu führen sollte, dass wieder Interessenkonflikte auftreten, die auf dem Rücken der Charité ausgetragen werden, dann würde ich das nicht gerne stützen. Jetzt werden Sie sagen, die beiden Präsidenten stehen doch dafür, dass dieser Hickhack diesmal nicht auftritt. Da ist meine Antwort: Man soll Strukturen nicht an Personen anpassen. Mit Herrn Alt als Präsident ist die Zusammenarbeit super. In der Vergangenheit war das nicht immer so. Ich erinnere daran, dass man das Klinikum Steglitz aus der Charité herauslösen wollte.

ALT: Die Forderung ist ja abgeleitet aus einer Diagnose, die wir vielleicht nicht ganz identisch sehen. Meine Wahrnehmung ist, dass es ein Mehr an Zusammenarbeit geben sollte, vor allen Dingen im Alltag. Ich glaube, dazu bedarf es nicht nur einer Verankerung in entsprechenden Gremien. Mein Wunsch wäre auch, dass wir uns regelmäßig in Abstimmungsrunden treffen. Was den Sitz im Aufsichtsrat selbst betrifft, ist es für uns und unser Verständnis als Universitäten einfach wichtig zu erkennen, welche Planungen im Gange sind, gerade im personellen Bereich. Ich verstehe unsere Rolle so, dass wir uns gegenüber der Politik argumentativ unterstützend einbringen, zum Beispiel, wenn es um Finanzierungsfragen geht oder um die Entwicklungen bei Professuren. In einem guten Sinne von Gemeinsamkeit können wir uns nur miteinander stärken.

Mal unabhängig vom Aufsichtsrat, wo könnten Sie sich denn eine stärkere Zusammenarbeit vorstellen, Herr Einhäupl?

EINHÄUPL: Zunächst möchte ich noch einmal betonen: Ich glaube, es ist zum Teil nur ein gefühltes Problem. Wenn man die einzelnen Forschungsprojekte ansieht, dann zeigt sich, dass es da eine enge Zusammenarbeit gibt. Ich glaube, eher stellt sich die Frage: Wie sieht es denn auf Leitungsebene aus? Ist da die Zusammenarbeit gut genug? Und da ist meine Antwort: Nein, die ist nicht gut genug. Daran müssen wir etwas ändern. Wir haben uns mittlerweile auch schon dahingehend verabredet, dass wir versuchen wollen, regelmäßiger Gespräche zu führen und gewisse Projekte top-down anzustoßen. Bottom-up funktioniert ja die Zusammenarbeit schon sehr gut.

Gibt es in der Lehre Spielraum für mehr Zusammenarbeit?

ALT: Ja. Das ist auch einer der Bereiche, wo ich sage, eine Gemeinsamkeit gibt es nicht mehr in dem Maße, in dem das früher der Fall war. Die Tatsache, dass die Charité ihre eigene Lehre organisiert, führt natürlich dazu, dass wir keine Lehre austauschen. Das wäre aber von Vorteil und würde die Einbindung der Medizin in die Universität und umgekehrt stärken. Wir haben Schnittmengen in der Veterinärmedizin, in der Pharmazie und zwischen den Naturwissenschaften ohnehin. Ich denke, die Studiendekane der einzelnen Fachbereiche sollten sich mit der Studiendekanin der Charité besprechen, welche Formen des Austausches es da geben könnte.

Sehen Sie das ähnlich, Herr Einhäupl?

EINHÄUPL: Ich sehe das genauso. Ich glaube, dass es einen Bedarf für strategische Entwicklungen auch in der Lehre gibt, die das gesamte Hochschulsystem betreffen, etwa neue Studiengänge, Internationalisierung, Qualitätssicherung in der Lehre oder Marketing. Die einzelnen Hochschulen müssen sich sehr klar positionieren, innerhalb Deutschlands, aber natürlich noch mehr innerhalb Europas. Das betrifft ebenso die Entwicklung exzellenten Nachwuchses. Auch dazu müssen wir die großartigen Chancen nutzen, die uns das von Bund und Land geförderte Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIG) bietet.

Wo liegen die großen medizinischen Herausforderungen der nächsten Jahre?

EINHÄUPL: Es gibt zwei ganz große Krankheitsgruppen, mit denen wir uns intensiv befassen müssen. Die eine ist zweifellos die Demenz. Wir wissen, dass die Chance, dement zu werden, vom 60. Lebensjahr an exponentiell steigt auf bis zu 35 Prozent im Alter von 90 Jahren. Wenn wir uns dann die Altersentwicklung anschauen, dann wird klar, dass es sich hier um ein riesiges sozialpolitisches Problem handelt. Das zweite ist das Thema Krebs. Krebserkrankungen an sich steigen nicht an, aber Patienten mit Krebs leben länger, Gott sei Dank. Sie brauchen deshalb aber auch länger eine entsprechende medizinische Versorgung. Gleichzeitig werden unsere Therapiemöglichkeiten immer besser, aber auch teurer. Die steigenden Kosten könnten das Solidarprinzip als Basis unseres Gesundheitssystems ernsthaft infrage stellen. Am Ende muss die Politik die Entscheidungen treffen, aber wir sollten die Antworten auf diese sozialpolitischen und ökonomischen Fragen vorbereiten. Hier sehe ich ganz große Chancen für eine intensive Zusammenarbeit zwischen der Charité mit ihrem medizinischen Fokus und der Freien Universität, die einen starken geistes- und sozialwissenschaftlichen Fokus hat.

ALT: Unsere Forschungsplattform Dyn-Age, die aus Mitteln unseres Zukunftskonzepts gefördert wird, beschäftigt sich bereits fächerübergreifend mit der Untersuchung menschlicher Alterungsprozesse. In den Blick treten dabei medizinische, im weiteren Sinne auch psychische und soziale Faktoren des Alterns. Die Charité ist an dieser Plattform ebenso beteiligt wie die Gesellschaftswissenschaften. Und die Brücke zum neuen Berliner Institut für Gesundheitsforschung wird schon gebaut.  Berlin hat ein riesiges wissenschaftliches Potenzial in der Medizin. Die Frage ist, welche Felder gezielt entwickelt werden.

Braucht die Hauptstadt einen Masterplan für Medizin?

EINHÄUPL: Ich denke, es ist eine positive Nachricht, dass man ganz klar erklärt hat, Gesundheit in Berlin zu einem Schwerpunkt zu machen. Die Frage ist allerdings: Wie will Berlin das dafür erforderliche Geld aufbringen? Die Charité braucht in den kommenden zehn bis 15 Jahren rund 600 Millionen Euro, um alle ihre Krankenhäuser in einen guten Zustand zu bringen und diesen zu erhalten. Das bedeutet, dass die Charité beispielsweise in den nächsten zehn Jahren jährlich rund 60 Millionen Euro benötigt – zusätzlich zu den 33 Millionen Euro, die sie im Jahr für alle investiven Aufgaben vom Land Berlin erhält. Dies würde dann insgesamt eine Summe von 90 bis 100 Millionen pro Jahr ausmachen. Die Vivantes-Kollegen brauchen im gleichen Zeitraum 800 Millionen bis eine Milliarde, um ihre Krankenhäuser in Schuss zu halten. Und ich schätze mal, ungefähr eine weitere Milliarde ist erforderlich, um die Universitäten investiv einigermaßen auf Vordermann zu bringen.Wenn Sie das alles zusammenzählen, dann weiß jeder, dass Berlin das in den nächsten zehn Jahren nicht schaffen kann. Wenn Sie das meinen mit einem Masterplan, dann muss ich sagen: Ja, dann brauchen wir einen Masterplan.

ALT: Ich denke, wir bräuchten auch eine Abstimmung darüber, wie Schlüsseltechnologien – etwa die Bioinformatik – genutzt werden sollen. Wir benötigen einen Masterplan für die Digitalisierung in der Forschung. Gerade die personalisierte Medizin, also die Entwicklung individueller Therapien für jeden Patienten, ist angewiesen auf einen wachsenden Anteil an digitalisiert vorliegenden Daten, entsprechend müssen die Rechnerkapazitäten angepasst werden. Dafür braucht man eine klare Standortpolitik.

Eine letzte Frage: Weil wir heute Nikolaus  haben – was wünschen Sie sich vom Berliner Senat?

EINHÄUPL: Ich wünsche mir vom Senat, dass es in der nächsten Legislaturperiode eine Diskussion gibt um die Frage, wie Berlin die notwendigen Investitionen stemmen will. Da wird Geld eine Rolle spielen, aber wir müssen auch nach neuen Strukturen suchen, im Kleinen wie im Großen.

ALT: Wir halten uns in dieser Top-Liga konkurrenzfähig, weil wir uns wie ein Spitzensportler auch durch ergänzende Drittmittel stärken. Und da habe ich den Eindruck, dass die Potenziale zum Beispiel bei den Wirtschaftskooperationen noch nicht optimal ausgeschöpft sind. Wir brauchen dafür – und das steht auf meinem Wunschzettel – mehr Initiative vonseiten der Landespolitik, mehr Engagement auch in der Koordination, gerade bei Forschungs- und Entwicklungsfragen. Es ist wichtig, dass man eine Politik hat, die etwas antreiben will, die unsere Vorschläge auch hört. Insofern würde ich mir neben einer Planungsunterstützung mehr Wertschätzung wünschen. Es wird uns rhetorisch die Reverenz erwiesen, aber ich sehe einen wesentlichen Unterschied zu den südlichen Bundesländern – wo natürlich die Mittel üppiger sind, das ist keine Frage. Aber dort ist auch die Wertschätzung höher und die Bereitschaft, das Thema zur Chefsache zu machen.