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Der Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität untersucht die Todesfälle an der innerdeutschen Grenze

Im Tagesrapport der DDR-Grenzpolizei vom14. März 1953 wurde gemeldet, der Soldat Hans-Joachim S. aus Allenstedt sei am Vortag gegen 19.00 Uhr unter Mitnahme der Waffe über den Kontrollstreifen nach Westdeutschland desertiert. Die Flucht „konnte von dem Streifenführer unter Anwendung der Schusswaffe nicht verhindert werden“, hieß es in dem Dokument. Ob der Flüchtende westdeutsches Gebiet unverletzt oder verletzt erreichte, ob er überlebte oder etwaigen Verletzungen erlag, geht aus der DDR-Überlieferung nicht hervor, und mehr als vier Jahrzehnte war unklar, was am 14. März 1953 tatsächlich an der Grenze geschah.

Der Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität untersucht seit August 2012 die Schicksale von Opfern des DDR-Grenzregimes. In dem bis Ende 2015 angelegten Forschungsprojekt recherchieren die Wissenschaftler die Lebensläufe der Männer, Frauen und Kinder, die zwischen 1949 und 1989 an der innerdeutschen Grenze starben. Erstellt werden soll ein Totenbuch mit Kurzbiografien aller nachweisbaren Todesopfer. Die Arbeiten werden aus Mitteln des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie der Bundesländer Hessen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt finanziert.

An der Grenze kamen auch viele Soldaten ums Leben

Das Forscherteam wertete bislang Überlieferungen von ost- und westdeutschen Dienststellen aus, die im Bundesarchiv Berlin, Koblenz und Freiburg (Militärarchiv), in der Stasiunterlagenbehörde, in verschiedenen Landesarchiven und in der Polizeihistorischen Sammlung beim Polizeipräsidenten in Berlin aufbewahrt sind. Außerdem wurden bereits etliche Zeitzeugen zu Zwischenfällen an der innerdeutschen Grenze befragt. Bei der überwiegenden Zahl der überprüften Todesfälle handelt es sich um Personen unter 25 Jahren, die Arbeiter- oder Handwerksberufe ausübten.

Das jüngste aus dem Archivgut ermittelte Todesopfer war ein im Juli 1977 im Kofferraum eines Fluchtfahrzeugs ersticktes sechs Monate altes Baby. Das älteste Todesopfer an der innerdeutschen Grenze war ein 80-jähriger Bauer aus dem niedersächsischen Landkreis Lüchow-Dannenberg, der im Juni 1967 versehentlich in ein Minenfeld geriet. Ihm wurden durch Landminen beide Beine abgerissen. Sein Todeskampf dauerte mehr als drei Stunden. Er verblutete unter den Augen eines DDR-Regimentsarztes, der sich nicht in den verminten Grenzstreifen wagte.

Das Forscherteam hat bislang Angaben zu 1128 vermutlichen Opfern des DDR-Grenzregimes recherchiert. Davon konnten 998 Opfer identifiziert und zu einem Teil biografisch dokumentiert werden; 190 an der innerdeutschen Grenze erfasste Todesfälle betreffen namentlich bislang unbekannte Personen. Neben Flüchtlingen, die beim Versuch, die DDR-Grenze zu passieren, ums Leben kamen, erbrachten die Recherchen im Archivgut auch eine erhebliche Zahl von Grenzsoldaten, die im Dienst an der Grenze nach Schuss- und Minenverletzungen starben oder Suizid begingen.

Die Klärung der Hintergründe von Selbsttötungen und die Einordnung dieser Fälle erwies sich als besonders schwierig, da im Schriftgut der untersuchungsführenden Offiziere der DDR-Staatssicherheit in der Regel persönliche Gründe als Ursachen aufgeführt werden. Motive, die auf militärische Schindereien und Probleme mit den Erlebnissen an der Grenze hindeuten, werden hingegen heruntergespielt, da solche Erscheinungen nicht in das Bild von den „klassenbewussten und tapferen Grenztruppen“ passten.

Tatsächlich aber geht aus Aussagen von Zeugen und aus Abschiedsbriefen häufig ein Zusammenhang zwischen Selbsttötungen und Ereignissen im Grenzdienst hervor. Insbesondere Zeugenaussagen aus den Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft nach 1990 korrigieren häufig das amtliche DDR-Schriftgut zu Grenzzwischenfällen. Dieses beruht auf Aussagen tatbeteiligter Grenzsoldaten und wurde durch Stasi-Berichterstatter der Weltsicht des SED-Regimes angepasst: Flüchtlinge galten demnach in der Regel als „DDR-Verräter“ und „asoziale Elemente“, die von der westlichen Propaganda verführt und vom realsozialistischen Weg abgebracht worden seien.

Auf erfreuliche Weise korrigierte eine Zeugenaussage auch den Rapport der DDR-Grenzpolizei über die Fahnenflucht im März 1953, jener Flucht von Hans-Joachim S., die angeblich durch den „Streifenführer unter Anwendung der Schusswaffe nicht verhindert werden“ konnte: Hans-Joachim S. wurde 1996 im Zuge der Ermittlungen zu Unrechtshandlungen des SED-Regimes wegen versuchten Totschlages gegen seinen damaligen Streifenführer Horst P. als Zeuge vernommen. S. sagte aus, er sei im März 1953 zum ersten Mal mit diesem Kameraden auf Streife gewesen. Sie hätten sich über die „Soldaten auf der westdeutschen Seite, mit denen wir vorher eine Zigarette geraucht hatten“, unterhalten, das seien doch keine Verbrecher. Er habe dann erwähnt, dass er eigentlich lieber auf der anderen Seite wäre, aber eine Flucht nicht wage, da Horst P. als Streifenführer dann auf ihn schießen müsste. Dieser habe geantwortet: „Ich schieße nicht. Du brauchst keine Angst zu haben, du kannst ruhig gehen.“

Die beiden vereinbarten, dass Horst P. nach zehn Minuten einen Schuss abgeben würde. So geschah es – im Tagesrapport der DDR-Grenzpolizei aber sah es so aus, als habe der Streifenführer gezielt und pflichtbewusst auf den Flüchtling geschossen. Die meisten Fahnenfluchten in den Westen seit 1961 registrierte das Ministerium für Staatssicherheit übrigens kurz vor dem Ende der SED-Diktatur. Eine Kartei der Stasi enthält für den Zeitraum vom 1. Januar bis 20. September 1989 die Namen von 342 Fahnenflüchtlingen aus der Nationalen Volksarmee und den Grenztruppen.

Der Autor ist Projektleiter im Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität.

Im Internet: www.fu-berlin.de/fsed/Opfer_des_DDR-Grenzregimes