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Spannung bis zum Abpfiff

Warum sich der Fußballweltmeister dieses Mal so schwer vorhersagen lässt

12.06.2014

Prognosen zum Ausgang von Europa- und Weltmeisterschaften sind nicht nur für Fußballfans reizvolle Gedankenspiele, auch die Wissenschaft versucht sich regelmäßig daran. Dabei werden immer wieder eine Vielzahl an Faktoren berücksichtigt und oft komplizierte mathematische Modelle berechnet, um den Titelgewinner vorab zu ermitteln: Alter und Größe der Spieler, ihre Länderspielerfahrung, das Wetter, Rangplätze in der offiziellen FIFA-Weltrangliste, aber auch ungewöhnliche Größen wie der "Katholikenanteil in der Bevölkerung des Landes". Soziologieprofessor Jürgen Gerhards von der Freien Universität wendet gemeinsam mit seinen Wissenschaftlerkollegen Michael Mutz (Universität Göttingen) und Gert G.Wagner (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) eine verblüffend einfache Methode an: die sogenannte Marktwert-Methode. Und die Trefferquote der Forscher bei den vergangenen vier Welt- und Europameisterschaften gibt ihnen recht. An dieser Stelle beschreiben die Drei ihren Weg zum Erfolg.

Seit dem Wegfall restriktiver "Ausländerklauseln" ist ein globaler Spielermarkt entstanden. Fußballer sind zu einer weltweit gehandelten Ware geworden und stehen heute mehr denn je unter Dauerbeobachtung: von Spielervermittlern, Sportmanagern, Trainern sowie zahlreichen tatsächlichen und selbsternannten Experten, die das Leistungsvermögen der Sportler kontinuierlich bewerten. Diese Einschätzungen finden ihren Ausdruck im Transferwert des Fußballers auf dem Markt: Der Preis des Spielers spiegelt seine Leistungen wider.

Und genauso wie der Marktwert ein Spiegelbild für die sportliche Leistungsfähigkeit eines einzelnen Fußballers ist, lässt sich auch die Stärke einer gesamten Mannschaft an ihrem Marktwert ablesen. Er ergibt sich dabei aus der Summe der Marktwerte aller Einzelspieler. Dieser äußerst einfache Indikator, gegen den jeder Fußballfan zig Einwände im Detail vorbringen könnte, hat eine verblüffend große prognostische Kraft: Die Mannschaft mit dem teuersten Spielerkader ist auch die turnierstärkste und wird deshalb mit der höchsten Wahrscheinlichkeit Wettbewerbssieger. Seit der Weltmeisterschaft 2006 haben wir mit dieser Methode den Ausgang aller großen Fußball-Turniere korrekt vorhersagen können. Auch für den europäischen Vereinsfußball konnte gezeigt werden, dass der Ausgang der Meisterschaft in den Fußball-Ligen sehr gut über den Marktwert der Teams vorhersagbar ist. Schließlich hat sich die Methode auch bei der Vorhersage der WM-Qualifikation 2014 bestens bewährt.

Dennoch: Die Endrunde der Weltmeisterschaft 2014 wird so spannend werden wie lange nicht mehr. Denn während die Marktwertunterschiede in der Qualifikation gigantisch waren – wenn etwa Deutschland gegen Kasachstan antrat –, gilt das für die WM-Endrunde nicht. In Brasilien steht uns zumindest nach der Gruppenphase ein stärker ausgeglichenes und damit spannungsreiches Turnier bevor – so wie schon 2006. Zwar ist Spanien mit einem Mannschaftswert von 622 Millionen Euro immer noch das Team mit dem höchsten Marktwert; Brasilien (467,5 Millionen), Argentinien (391,5 Millionen), Frankreich (379 Millionen) und vor allem Deutschland (562 Millionen) haben aber im Vergleich zur WM 2010 deutlich aufgeschlossen. Diese fünf Mannschaften sind die klaren Favoriten des Turniers.

Bei der WM 2010 war der Abstand von Spanien (650 Millionen Euro) vor allem zu Deutschland (334 Millionen) noch deutlich größer. Nach der Marktwert-Prognose ist die Chance für das DFB-Team, den Titel zu gewinnen, demnach so groß wie schon lange nicht mehr. Wegen der Ausgeglichenheit der favorisierten Teams ist allerdings Spannung bis zum Schluss garantiert. Im heutigen kommerzialisierten Profi-Fußball, in dem Finanzkraft und sportlicher Erfolg so eng verknüpft sind wie nie zuvor, ist das keine Selbstverständlichkeit. Das hat uns die langweilige Bundesliga-Saison gerade gelehrt, in der die extrem "teuren" Bayern die Meisterschaft schon im März entschieden hatten.

Kleinigkeiten bis hin zur Trikotfarbe werden darüber entscheiden, wer gewinnt

Je höher die Marktwerte desto größer sei die Chance der Teams, in die Finalrunde zu gelangen, glauben Jürgen Gerhards, Michael Mutz und Gert G.Wagner. Demnach ist ein Finale zwischen Spanien und Deutschland wahrscheinlich.

Je höher die Marktwerte desto größer sei die Chance der Teams, in die Finalrunde zu gelangen, glauben Jürgen Gerhards, Michael Mutz und Gert G.Wagner. Demnach ist ein Finale zwischen Spanien und Deutschland wahrscheinlich.
Bildquelle: Freie Universität Berlin/Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung/Uni Göttingen

Die günstige WM-Auslosung garantiert zudem, dass die vier besten Teams wahrscheinlich erst spät im Turnierverlauf aufeinandertreffen werden. Wie die Endrunde verlaufen würde, wenn der Marktwert über das Weiterkommen entschiede, illustriert die Abbildung in diesem Text: Deutschland wird demnach zuerst auf Russland (im Achtelfinale) treffen und auf Frankreich (im Viertelfinale). Beide Mannschaften verfügen über einen deutlich schwächeren Mannschaftskader, sodass sich das DFB-Team hier durchsetzen sollte. Im Halbfinale warten dann allerdings die Brasilianer auf die deutsche Mannschaft, die zwar einen etwas geringeren Marktwert haben, aber mit dem Heimvorteil ins Rennen gehen. Im zweiten Halbfinale sollten sich die Spanier gegen die Argentinier durchsetzen.

Deutsche Erfolge gegen Brasilien im Semifinale und im möglichen Endspiel gegen Spanien hängen ganz und gar von der Tagesform und dem Faktor "Zufall" ab. Letzterer spielt im Fußball – im Gegensatz zu vielen anderen Sportarten – eine herausragende Rolle. Im Fußball werden insgesamt sehr wenige Tore geschossen, sodass ein einziger Treffer schon den Sieg bedeuten kann. Eine falsche Entscheidung des Schiedsrichters, ein einzelner Fehlpass oder ein zufällig abgefälschter Ball können den Ausgang eines Fußballspiels beeinflussen. Beim Basketball etwa ist das völlig anders. Hier werden in einem einzigen Spiel häufig mehr Körbe erzielt als eine Fußballmannschaft in einer ganzen Saison Tore schießt. Analysen zu verschiedenen Sportarten zeigen, dass der Zufall im Basketball oder Handball im Unterschied zum Fußball weniger oft darüber entscheidet, wer gewinnt.

Wenn aber der endgültige Sieger der diesjährigen Weltmeisterschaft auf Grund ähnlicher Marktwerte der Spitzenmannschaften schwer zu prognostizieren ist, werden Kleinigkeiten darüber entscheiden, wer gewinnt – vielleicht sogar die Farbe des Trikots. Während die deutsche Mannschaft bei bislang allen großen Turnieren in weißen und grünen Trikots auflief, setzen die Verantwortlichen diesmal auf die Farbe Rot. Aus Sicht der Sportpsychologie ist das genau die richtige Farbwahl. Wissenschaftler der Universität Durham haben bereits 2005 herausgefunden, dass Sportteams in roten Trikots häufiger gewinnen als Mannschaften, die in anderen Farben auflaufen. Seitdem haben viele Forscher versucht, diese Befunde zu replizieren – mal mit, mal ohne Erfolg. Nachfolgende Studien konnten aber Anhaltspunkte dafür liefern, dass Rot bei Männern zur vermehrten Ausschüttung von Testosteron führt und die Aggressivität im Wettkampf steigert.

Wenn es stimmt, dass diesmal Kleinigkeiten über den WM-Sieg entscheiden, dann vielleicht auch diese. Sollten sich Neymar, Iniesta und Co. von den in "aggressivem" Rot spielenden Deutschen merklich eingeschüchtert fühlen, dann könnte es klappen mit dem heiß ersehnten Titel für die Deutschen. Ein kleiner Wermutstropfen vorab: Die ohnehin favorisierten Spanier werden ihrer Tradition entsprechend allerdings mit noch mehr Rot im Trikot auflaufen als die Deutschen.

Weitere Informationen

Jürgen Gerhards ist Professor für Soziologie an der Freien Universität; Michael Mutz war bis 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität und ist jetzt Juniorprofessor für Sportwissenschaften an der Universität Göttingen; Gert G. Wagner ist Vorstandsmitglied des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und Ökonomieprofessor an der Technischen Universität Berlin. Eine Anwendung der hier vorgestellten Prognose-Methode kann man am Beispiel der europäischen Fußball-Ligen im jüngsten Heft der "Zeitschrift für Soziologie" nachlesen.