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Vom Feeling her einfach ein gutes Gefühl

12.06.2014

Die Fußballweltmeisterschaft hat begonnen und in Deutschland freuen sich die Fans wieder darauf, der Nationalmannschaft zuzujubeln.

Die Fußballweltmeisterschaft hat begonnen und in Deutschland freuen sich die Fans wieder darauf, der Nationalmannschaft zuzujubeln.
Bildquelle: Ingo Bartussek, Fotolia.com

Warum der Fußball kollektive Emotionen auslöst und harte Männer zum Weinen bringt

Die Fußballweltmeisterschaft hat begonnen und in Deutschland freuen sich die Fans wieder darauf, der Nationalmannschaft zuzujubeln. Die Wissenschaftler des Exzellenzclusters Languages of Emotion der Freien Universität Berlin, Professor Christian von Scheve und Sven Ismer, untersuchen seit der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland die kollektiven Emotionen, die beim Fußballschauen entstehen. Ein Gespräch über Fußball, Zusammengehörigkeitsgefühle, unerwartete Identifikationen – und weinende Männer.

Herr von Scheve, Herr Ismer, wissen Sie noch, was Sie am 14. Juni 2006 um 22.50 Uhr gemacht haben?

SCHEVE: War das das Viertelfinale gegen Argentinien?

Nein, Deutschland-Polen. Odonkor auf Neuville, 1:0 in der 90. Minute.

SCHEVE: Das weiß ich nicht mehr genau, wahrscheinlich habe ich im Garten gesessen, und wir haben das Fernsehgerät rausgetragen wie bei fast allen Deutschlandspielen.

Das Spiel gilt als die Geburtsstunde des deutschen Sommermärchens.

SCHEVE: Das stimmt, das war schon etwas Besonderes. Zum ersten Mal wurde damals sichtbar, dass nationale Symbole – und Fahnen sind da immer das beste Beispiel – in Deutschland offen präsentiert und von der Allgemeinheit positiv assoziiert wurden. Auch die Anerkennung aus dem Ausland für die deutsche Gastgeberrolle, zum Beispiel in Zeitungskolumnen, war sehr groß. Stereotype von Deutschen und Deutschland wurden revidiert, basierend einzig auf dieser einen Weltmeisterschaft. Damit einher ging auch eine veränderte Vorstellung in Deutschland darüber, wie andere über Deutsche denken. Diese beiden neuen Blickwinkel haben sich bis heute erhalten.

ISMER: Ich habe mich intensiv mit der Berichterstattung auseinandergesetzt, und gerade das Spiel gegen Polen nimmt dort und in rückblickenden Aufarbeitungen eine spezielle Rolle ein. Fernsehen und Printmedien setzten Fans mit der Nation gleich und sprachen von – wortwörtlich – „einem Urknall der Gefühle“. Eine Metapher, die suggeriert, dass eine Nation neu entstehe. Das Spiel wurde zu einem orgiastischen Ereignis des Zusammenfindens stilisiert.

Welche Prozesse wurden da angestoßen?

ISMER: Ich denke, dass bei der WM 2006 sehr viele Deutsche einen anderen Blick auf ihre nationale Zugehörigkeit bekommen haben und darauf, was sozial akzeptiert ist undwas nicht. Für Soziologen ist das ein sehr interessanter Prozess, weil man sich fragen kann, wie es dazu kam, dass mit solchen lange bestehenden gesellschaftlichen Normen gebrochen wurde – zum Beispiel mit der, dass man eigentlich nicht mit einer Deutschland-Fahne herumläuft. Kollektive Emotionen spielen da eine entscheidende Rolle. Viele erlebten diese sechs Wochen als einen rauschhaften Zustand und merkten: Sie dürfen nun jubeln und Fahnen schwenken, nicht zuletzt, weil alle anderen das auch machten.

Der Soziologe Sven Ismer von der Freien Universität Berlin untersucht unter anderem Veränderungen von Nationalgefühlen im Zusammenhang mit Sportereignissen.

Der Soziologe Sven Ismer von der Freien Universität Berlin untersucht unter anderem Veränderungen von Nationalgefühlen im Zusammenhang mit Sportereignissen.
Bildquelle: David Bedürftig

Christian von Scheve ist Juniorprofessor für Soziologie. Zu seinen Forschungsgebieten zählen Emotionen und soziale Unterschiede sowie kollektive Emotionen.

Christian von Scheve ist Juniorprofessor für Soziologie. Zu seinen Forschungsgebieten zählen Emotionen und soziale Unterschiede sowie kollektive Emotionen.
Bildquelle: David Bedürftig

Besitzen kollektive Emotionen im Fußball also wirklich diese Macht, in der Gesellschaft Zusammengehörigkeitsgefühle zu entfachen?

SCHEVE: In der Theorie auf jeden Fall (lacht). Unser Ansatz bezieht sich auf den französischen Soziologen Émile Durkheim. Er fand heraus, dass durch gemeinsame Rituale, wie in unserem Fall das gemeinsame Schauen von Fußballspielen, starke positive oder negative Erregungen entstehen. Bei solchen Ritualen spielen immer Symbole eine wichtige Rolle, die die Nation repräsentieren, zum Beispiel die Deutschlandfahne.

Die Idee ist, dass durch das Beleben dieser kollektiven Emotionen den Symbolen eine affektive Bedeutung jenseits ihrer eigentlichen, deklarativen zugeschrieben wird. Dies hat dann Auswirkungen im Alltäglichen, abseits dieser Rituale. So entsteht einerseits das Gefühl von Zusammengehörigkeit, andererseits aber natürlich auch Ab- und Ausgrenzung.

Wir haben diese Theorie in ein wissenschaftliches Design für die Weltmeisterschaft 2010 und die Europameisterschaft 2012 umgemünzt und schließlich herausgefunden, dass eine erheblich positivere Sicht auf nationale Symbole mit dem gemeinsamen Fußballschauen beziehungsweise dem Erleben kollektiver Emotionen einherging. Auch beobachteten wir einen leichten Anstieg der generellen Identifikation mit Deutschland und eine geringfügig stärkere Abwertung von Minderheiten.

Brasilien, Ausrichter der Weltmeisterschaft 2014, ist gespalten zwischen arm und reich und schwarz und weiß, was sich seit einiger Zeit in starken Protesten äußert. Welche Auswirkungen werden kollektive Emotionen am Zuckerhut haben?

ISMER: Brasilien ist ein Land, in dem eine riesige Fußballbegeisterung herrscht. Das wird sich auch bei dem Turnier zeigen. Andererseits ist es absolut verständlich, dass die Menschen kritisieren, dass in einer von Armut und Elend geplagten Stadt wie Manaus für irrsinnige Millionensummen ein Stadion aus dem Boden gestampft wird, das nach der WM leerstehen wird.

SCHEVE: Zusammengehörigkeitsgefühle und identitätsstiftende Gefühle, die im Rahmen dieses inszenierten Rituals entstehen, sind natürlich auch nicht die einzigen kollektiven Emotionen bei einer WM. Bei den Protestbewegungen in Brasilien gibt es ganz andere Arten von kollektiven Emotionen, die parallel zu den Fußballspielen vielleicht gerade eine Abgrenzung zu dem Land und dem Turnier hervorrufen.

Da wir von anderen Emotionen reden: Freude, Trauer, Aggressionen – die Gefühle, die Fußball hervorruft, sind mannigfaltig.

ISMER: Das Entscheidende ist: Wenn man Emotionen in der Gruppe erlebt, erlebt man gleichzeitig die Gruppe selbst. Da wirken Prozesse emotionaler Ansteckung und Empathie; Emotionen schaukeln sich hoch und werden viel intensiver erfahren als es ohne dies Wissen von Gemeinsamkeit der Fall wäre. Das zeigt einem, dass man Teil einer Gruppe ist, die mehr ist als ihre Einzelteile. Emotionen – und das gilt auch für negative Gefühle wie Trauer - authentifizieren die Gruppenzugehörigkeit, machen die Gruppe relevant für den Einzelnen. Zugehörigkeit Zeit zu Zeit erlebt wird, ansonsten verliert sie ihre mobilisierende Kraft.

SCHEVE: Relevanz ist hier ein wichtiger Punkt. Ich empfinde keine Emotionen, wenn etwas passiert, das mir egal ist. Insofern zeigen Emotionen uns selbst Dinge an, die für uns eine Bedeutung besitzen, obwohl uns die Relevanz – rein kognitiv betrachtet – vielleicht gar nicht klar ist. Manch einer merkt, dass er sich mit Deutschland auf eine Weise identifiziert, wie er es vorher nicht nicht geahnt hat.

ISMER: Diese Emotionen beim Fußball sind natürlich auch sehr besonders und attraktiv zu erleben. Da liegt ein Knistern in der Luft, eine gemeinsame Erregung, und so sitzen bei WM-Spielen alle vor dem Fernseher und jubeln mit.

Mittelfeldspieler Andreas Möller hatte beim Fußball oft „vom Feeling her ein gutes Gefühl“. Mit welchen Emotionen und wo schauen Sie denn Fußball?

SCHEVE: Ich bin eher ein WM- und EM-Gucker und schaue dann gern in einer Kneipe oder zuhause mit Freunden.

ISMER: Die Menschen suchen sich den Ort des Fußballschauens auch danach aus, welche Art von emotionalem Erlebnis sie selbst haben möchten. Ich gucke schon alle Spiele meines Vereins und gehe dafür auch meist in eine Bar. Geweint habe ich noch nie, dafür aber geschrien und geflucht. Interessant ist auch, dass beim Fußball Männer Tränen vergießen, die das im Alltag niemals tun würden, weil es da als ein Zeichen für Schwäche gedeutet wird. Es gibt nur sehr wenige gesellschaftliche Anlässe, bei denen geltende Konventionen sagen: Es ist in Ordnung zu weinen. Beim Fußball kann man einfach Emotionen ausdrücken, die man normalerweise für sich behält.

Das Gespräch führte David Bedürftig.