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„Eine unwiderstehliche Neigung zum Erzählen“

10.04.2014

Der Schriftsteller Hans Joachim Schädlich hält in diesem Sommersemester ein Autorenkolleg an der Freien Universität.

Der Schriftsteller Hans Joachim Schädlich hält in diesem Sommersemester ein Autorenkolleg an der Freien Universität.
Bildquelle: juergen-bauer.com

Ein Gespräch mit Hans Joachim Schädlich, dem Berliner Literaturpreisträger der Stiftung Preußische Seehandlung, der die Heiner-Müller-Gastprofessur der Freien Universität innehat

Wenn Hans Joachim Schädlich an die Gestaltung seiner Antrittsvorlesung für die Heiner-Müller-Gastprofessur denkt, dann fallen ihm Vorlesungen ein, die er selbst als Student besucht hat: die des Germanisten Hermann August Korff, der sein bekanntes Buch „Geist der Goethezeit“ einfach vorlas, oder die des Philosophen Ernst Bloch, der, „mit Entourage“ auftrat, wie sich Schädlich erinnert, in der Hand ein notizzettelgroßes Manuskript, und der seine im Hörsaal entwickelten Gedanken zu Publikationszwecken aufzeichnen ließ.

Leben und Werk von Hans Joachim Schädlich sind mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts eng verbunden, und es ist kein Zufall, dass er den renommierten Berliner Literaturpreis der Stiftung Preußische Seehandlung, der mit der Gastprofessur verbunden ist, im Jahr des 25-jährigen Jahrestags des Mauerfalls erhält. In diesem Sommersemester hält er für Studenten der Freien Universität ein Autorenkolleg. Das Thema: Literatur und Diktatur.

Herr Schädlich, Sie haben über die „Phonologie des Ostvogtländischen“ promoviert, und arbeiteten als Sprachwissenschaftler in der Ostberliner Akademie der Wissenschaften. Gibt es eine Verbindung zwischen dem Leben als Linguist und dem Leben als Autor?

Ja, und zwar meine Vorliebe, Wörterbücher und sogar Lexika wie fortlaufende Texte zu lesen. Ich besitze das Grimm'sche Wörterbuch und eine Sammlung von Wörterbüchern der deutschen Sprache. Das habe ich von der Sprachwissenschaft mit hinübergenommen in meine Arbeit als Schriftsteller: Wörterbücher lesen, Wörter nachschlagen.

Was gab den Impuls, mit dem Schreiben anzufangen?

Ich hatte schon immer eine Neigung zum Erzählen, und wenn ich niemanden vor mir hatte, dem ich etwas erzählen konnte, dann habe ich es mir selbst erzählt, stumm, bis zu einem Punkt, an dem ich dachte, dann könnte ich's ja auch aufschreiben. So bin ich zum Schreiben gekommen, durch die unwiderstehliche Neigung zum Erzählen.

Wann verstanden Sie sich als Schriftsteller?

1969, mit 34 Jahren, schrieb ich den ersten Text, von dem ich dachte, er tauge etwas. Aber ich kam selten zum Schreiben, denn ich war mit Dienstaufträgen der Akademie ausgefüllt. Im Sommer 1974 begann eine Reihe von ostwestdeutschen Schriftstellerbegegnungen, die wir für geheim hielten, organisiert von meinem damaligen Nachbarn, dem Autor Bernd Jentzsch.

Günter Grass, der auch teilnahm, schlug vor, ich solle einen Vortrag über die Situation der deutschen Sprache in Ost und West halten. Als ich vortragen sollte, entschied ich mich, eigene Texte vorzulesen. Danach sagte Uwe Johnson zu mir: „Ich erwarte in einem Jahr ein Buch von Ihnen.“ Dieser Satz war für mich ein Ritterschlag. Ich habe von da an, bis zur Ausreise 1977, an fünfzehn solcher Treffen teilgenommen und beinahe alle Texte, die später in „Versuchte Nähe“ abgedruckt wurden, vorgelesen. Das war für mich die einzige literarische Öffentlichkeit, allerdings eine nicht-öffentliche Öffentlichkeit.

Sie haben Ihre Texte in der DDR an mehrere Verlage geschickt. Mit welchen Argumenten wurden sie abgelehnt?

Mit rein ideologischen: Man hat mich formal gelobt und inhaltlich verworfen. Es klingt heute erstaunlich, aber in der DDR durfte kein Buch erscheinen, das nicht durch die Zensur gegangen war. Die Lektorate trafen bereits eine Vorauswahl, die Hauptabteilung Verlage und Buchhandel des Ministeriums für Kultur erteilte schließlich die Druckgenehmigung.

Dieser Zensur mussten sich alle Autoren unterwerfen – auch Hermann Kant oder Volker Braun oder Christa Wolf oder Heiner Müller, nach dem die Gastprofessur benannt ist. Ich habe mich ihr nicht unterworfen. Deshalb betrachte ich mich auch nicht als DDR-Autor.

Der damalige Leiter des Hinstorff-Verlages, Konrad Reich, von dem man heute weiß, dass er auch für die Staatssicherheit gearbeitet hat, bestellte mich einmal in Berlin in ein Restaurant. Er sagte, ich solle in die Produktion gehen, um die Wirklichkeit der DDR kennenzulernen. Was für eine Anmaßung! Ich sollte die Wirklichkeit der DDR so sehen, wie er sie sah. Ich habe sie aber anders gesehen.

Als „Versuchte Nähe“ im August 1977 schließlich erschien – im westdeutschen Rowohlt Verlag – war es ein großer Erfolg. Was bedeutete das für Sie?

Als das Buch erschienen war, brachte mir jemand die Rezension von Marcel Reich-Ranicki in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit nach Ostberlin. Eine sehr gute Besprechung, ein Paukenschlag, und die anderen sagten: „Das ist vom Ranicki!“ Aber ich wusste damals gar nicht, wer Marcel Reich-Ranicki war. Woher auch? Ich konnte ja nie das Feuilleton einer westdeutschen Zeitung lesen.

Veränderte das Ihr Schreiben?

Im November 1977 reiste ich mit meiner Familie in die Bundesrepublik aus. Ich brauchte lange, um mich wieder zu Hause zu fühlen. Der Erfolg übte innerlich großen Druck auf mich aus, ich hatte das Gefühl, ich müsse ihn jetzt durch eine weitere Arbeit belegen und konnte das zunächst nicht. Abgesehen von dem 1980 erschienenen Kinderbuch „Der Sprachabschneider“ veröffentlichte ich erst 1984 das Büchlein „Mechanik“ in dem kleinen BrennGlas Verlag Assenheim.

Potenzielle Teilnehmer sollten für das Autorenkolloquium Texte zum Thema „Verrat“ einreichen, ein Thema, das in vielen Ihrer Werke eine Rolle spielt. Mit der autobiografischen Erzählung „Die Sache mit B.“ reagierten Sie 1992 selbst auf einen ungeheuerlichen Verrat.

Der Text beschäftigt sich mit meinem ältesten Bruder, der – wie wir erst aus den Akten erfuhren – Inoffizieller Mitarbeiter des DDR-Staatssicherheitsdienstes war und ich habe ihn zweimal geschrieben. Beim ersten Mal ging meine ganze Erregung, meine ganze Enttäuschung in diesen Text ein. Als ich den Text las, fand ich, er taugt nicht, er entspricht nicht dem Prinzip meines Schreibens, Gefühle nicht zu benennen, sondern durch die Darstellung zu wecken. Dann habe ich den Text neu geschrieben, aus der Vogelperspektive, cool, distanziert.

Was sollen die Studenten im Autorenkolloquium lernen?

Ich glaube nicht, dass man Schreiben lernen kann, man kann sich nur üben. Ich gehe von mir selber aus: Ich habe das Schreiben nicht gelernt, ich habe es nur an mir selbst geübt – nach den Vorstellungen, die ich davon hatte. Dazu gehört für mich ein reduzierter Stil. Und man lernt vielleicht durch die Lektüre anderer Autoren. Wenn jemand schreiben lernen möchte, dann muss er lesen, und er wird jemanden finden, der ihm nahe ist. Von ihm kann er vielleicht lernen.

Das Interview führte Nina Diezemann

Weitere Informationen

Seine Antrittsvorlesung hält der Schriftsteller Hans Joachim Schädlich am 7.Mai um 18 Uhr in Raum KL 32/202 in der Habelschwerdter Allee 45.