„Fast wie bei einem Tanz“
Über die Präsenz von Professoren und die Faszination von Vorlesungen: Ein Gespräch mit Literaturprofessor Hans Ulrich Gumbrecht
26.09.2013
Hans Ulrich Gumbrecht, Professor der Stanford University, ist im Internationalen Wissenschaftlichen Beirat der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule der Freien Universität.
Bildquelle: privat
Er kennt die Hochschullehre in Deutschland und den USA: Der Literaturwissenschaftler und Autor Hans Ulrich Gumbrecht war als Professor an den Universitäten Konstanz, Bochum und Siegen tätig, bevor ihn die Stanford University in den USA 1989 auf den Lehrstuhl für Komparatistik berief. Gute Lehre könne das Leben verändern, sagt Gumbrecht, der auch im Internationalen Wissenschaftlichen Beirat der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien der Freien Universität sitzt. Im Gespräch mit Nina Diezemann verrät er, warum er sein Studium an den Nagel hängen wollte und was ihn davon abhielt.
Sie sind seit 1989 Professor an der Stanford University. Welche Unterschiede gibt es in der Lehre zwischen den USA und Deutschland?
Der Stellenwert der Lehre an guten amerikanischen Universitäten ist sehr hoch. Ein Beispiel dafür ist mein Arbeitsvertrag. Da steht nichts von Forschung, ich bekomme, rein juristisch gesehen, mein Geld ausschließlich für Lehre. Auch die Gehaltsentwicklung ist stärker von der Evaluation der Lehre abhängig als von den Publikationen.
Das bedeutet nicht, dass alle Kollegen in den USA bessere Hochschullehrer sind als die Kollegen in Europa. Aber die Lehre spielt institutionell gesehen gewiss eine größere Rolle.
Welches Wissen kann man ausschließlich durch Lehre vermitteln? Kann man das nicht genauso gut in Büchern nachlesen?
Es gibt Inhalte, die sich eher durch Bücher oder sogar besser online vermitteln lassen. Auf der anderen Seite kennen wir alle den Effekt von Präsenzsituationen, etwa in einem Seminar, der eine besondere Intensität hat: Man kann zurückfragen, man kann schnell reagieren, es ergibt sich die Möglichkeit des gemeinsamen Weiterentwickelns von Gedanken.
Wilhelm von Humboldt hat das so beschrieben: Die verschiedenen Tonalitäten der Generationen in einer solchen Präsenzsituation sollen – und können – sich wechselseitig inspirieren. Der Lehrer ist in einer anderen Weise von seinen Inhalten begeistert als seine Schüler. Deswegen ist der Professor für die Entwicklung seiner Intuitionen und Gedanken mindestens genauso auf die Gegenwart seiner Studenten angewiesen wie diese auf ihn.
Und ich erlebe das tatsächlich so, dass die an den Gesichtern ablesbaren und in den Stimmen hörbaren Reaktionen der Studenten mich zum Denken bringen – manchmal auf einer vorreflektierten, vorbegrifflichen Ebene, fast wie bei einem Tanz.
Wenn Sie an Ihr eigenes Studium zurückdenken, gab es da eine Sternstunde der Lehre für Sie als Studenten?
Im Herbst 1967, unmittelbar vor der sogenannten Studentenrevolution, habe ich angefangen, in München Germanistik und Romanistik zu studieren. Ich war zunächst so enttäuscht, dass ich glaubte, ich müsse mein Studium abbrechen. Auf Anregung eines Kommilitonen landete ich dann bei einer Vorlesungdes Mediävisten Hugo Kuhn – und war von diesem Augenblick an im wörtlichen Sinn intellektuell gefangen, ohne je wieder an einen Rück- oder Ausweg zu denken. Wenn man heute Kuhns Essays liest, bekommt man noch ein Gefühl von der Präsenz seiner Sprache, seiner Freude am Denken und am intellektuellen Experiment.
Kann gute Lehre das Leben verändern?
Ja, so banal das zunächst klingen mag. Aber wäre ich zum Beispiel damals nicht in die Vorlesung von Hugo Kuhn gegangen, dann wäre ichwohl nie ein Literaturwissenschaftler und schon gar kein Mediävist geworden. Ich hätte wahrscheinlich einen ganz anderen Beruf gewählt. Wenn die Lehre in unmittelbarer Präsenz für die Universität nicht mehr bestimmend bleibt, dann gibt es diese Momente der Inspiration nicht mehr, dann wird die Universität nur noch ein Förderband für berufsrelevantes Wissen sein. Der berühmte Slawist Jurij Striedter etwa publizierte nach seiner Berufung nach Harvard kaum noch Essays oder Bücher. Aber er hat Vorlesungen und Seminare zu Tolstoi und Dostojewski gehalten, die jeder Student in Harvard kannte und belegen wollte. Barack Obama sagte kürzlich in einem Interview, er sei als Jura-Student der Harvard Law School in einer Dostojewski-Vorlesung von Jurij Striedter gewesen. Man kann nicht gleich sagen, dass unser Präsident deshalb Russland besser versteht. Aber erst die Möglichkeit, solche Vorlesungen zu besuchen, macht eine Universität zu einem intellektuellen Ort.
Wenn Sie an Ihr eigenes Studium zurückdenken, gab es da eine Sternstunde der Lehre für Sie als Studenten?
Im Herbst 1967, unmittelbar vor der sogenannten Studentenrevolution, habe ich angefangen, in München Germanistik und Romanistik zu studieren. Ich war zunächst so enttäuscht, dass ich glaubte, ich müsse mein Studium abbrechen. Auf Anregung eines Kommilitonen landete ich dann bei einer Vorlesung des Mediävisten Hugo Kuhn – und war von diesem Augenblick an im wörtlichen Sinn intellektuell gefangen, ohne je wieder an einen Rück- oder Ausweg zu denken. Wenn man heute Kuhns Essays liest, bekommt man noch ein Gefühl von der Präsenz seiner Sprache, seiner Freude am Denken und am intellektuellen Experiment.
Kann gute Lehre das Leben verändern?
Ja, so banal das zunächst klingen mag. Aber wäre ich zum Beispiel damals nicht in die Vorlesung von Hugo Kuhn gegangen, dann wäre ichwohl nie ein Literaturwissenschaftler und schon gar kein Mediävist geworden. Ich hätte wahrscheinlich einen ganz anderen Beruf gewählt. Wenn die Lehre in unmittelbarer Präsenz für die Universität nicht mehr bestimmend bleibt, dann gibt es diese Momente der Inspiration nicht mehr, dann wird die Universität nur noch ein Förderband für berufsrelevantes Wissen sein.
Der berühmte Slawist Jurij Striedter etwa publizierte nach seiner Berufung nach Harvard kaum noch Essays oder Bücher. Aber er hat Vorlesungen und Seminare zu Tolstoi und Dostojewski gehalten, die jeder Student in Harvard kannte und belegen wollte. Barack Obama sagte kürzlich in einem Interview, er sei als Jura-Student der Harvard Law School in einer Dostojewski-Vorlesung von Jurij Striedter gewesen. Man kann nicht gleich sagen, dass unser Präsident deshalb Russland besser versteht. Aber erst die Möglichkeit, solche Vorlesungen zu besuchen, macht eine Universität zu einem intellektuellen Ort.