„Die Situation kann man sich heute nicht mehr vorstellen“
Ein Fernseh- und ein Zeitungsjournalist erinnern sich an den Besuch John F. Kennedys an der Freien Universität Berlin.
10.06.2013
„Jubelschrei aus 18000 Studentenkehlen“, schrieb die „Berliner Morgenpost“ über den Besuch von US-Präsident John F. Kennedy am 26. Juni 1963 an der Freien Universität. An jenem Mittwoch war Michael Ludwig Müller für die Zeitung als Berichterstatter in Dahlem. Er erlebte hautnah, wie Kennedy nach seiner Rede vor dem Schöneberger Rathaus an die Freie Universität kam.
„Bereits vier Stunden vor der Ankunft von US-Präsident John F. Kennedy gegen 12 Uhr beobachtete ich, wie sich die Umgebung des Henry- Ford-Baus füllte. Es kamen Tausende Angehörige der Freien Universität sowie Studierende, Assistenten und Professoren aller West-Berliner Hochschulen“, sagt Michael Ludwig Müller.
Die meisten der Anwesenden – ihre Zahl wird auf 18 000 bis 20 000 geschätzt – standen bei schönem Sommerwetter auf dem weitläufigen Gelände zwischen der Boltzmannstraße und der Mensa. Per Lautsprecher wurden sie über den Besuch Kennedys auf dem Laufenden gehalten, erinnert sich der Journalist.
In seinem Artikel vom darauffolgenden Tag beschreibt er das so: „In leichter Sommerkleidung hatten sich die Studenten auf dem Rasen und auf den Wegen häuslich niedergelassen. Lautsprechermusik und Limonadenverkäufer sorgten für eine Atmosphäre wie bei einem Volksfest.“ Nur zeitweise sei es in der Menge zu einem beängstigenden Gedränge gekommen.
„Ich erlebte John F. Kennedys Auftritt vor 500 Privilegierten im Hof des Henry-Ford-Baus, der sonst als Parkplatz diente“, sagt Müller, der 1961 an der Freien Universität mit einer Arbeit über den Einfluss der Presse auf die Bundestagswahl 1957 promoviert worden war.
Seinen herausragenden Aussichtspunkt hatte Müller durch eine glückliche Fügung ergattert: „Ein etwas wackeliges Stahlgerüst des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) auf dem hinteren Teil des Parkplatzes wurde kurz vor dem Eintreffen von John F. Kennedy von etwa vier bis fünf Studenten erklommen“, erklärt Müller.
Diese seien allerdings vom Aufnahmeleiter über ein Megafon wieder heruntergeholt worden. „Also wartete ich, bis Kennedy und seine Begleiter anwesend waren und stieg erst dann hinauf. Mein Kalkül, dass nun keiner mehr laut protestieren könne, weil sonst die feierliche Veranstaltung gestört würde, ging auf“, sagt Michael Ludwig Müller. Auf diese Weise konnte Müller John F. Kennedy während seiner 21 Minuten und 32 Sekunden langen Rede von seinem „Logenplatz“ aus beobachten.
Ursprünglich wollte Müller den Aufritt Kennedys vor dem Rathaus Schöneberg miterleben: „Doch ich wurde von meiner Redaktion am späten Vormittag zur Freien Universität umdirigiert, da ich seinerzeit Hochschul-Berichterstatter der Zeitung war“, erklärt der Journalist.
„Das Entscheidende des Kennedy-Besuches war natürlich die Rede vor dem Schöneberger Rathaus. Der Besuch an der Freien Universität war dagegen ein besonderes Gastgeschenk des US-amerikanischen Präsidenten. So wie die ganze Freie Universität ein Geschenk der Amerikaner war“, erinnert sich Harald Karas, der damals Moderator und Chef der Abendschau des Senders Freies Berlin (SFB) war und den insgesamt achtstündigen Berlin-Besuch Kennedys von der Ankunft bis zum Abflug live im Studio am Theodor-Heuss-Platz kommentierte.
Wie aber ist die große Begeisterung der Berliner zu erklären? „Es war eine Situation, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann“, erklärt Harald Karas. „Es waren 1,5 Millionen Menschen auf den Straßen. Wesentlich mehr Einwohner hatte West-Berlin damals gar nicht.“ Um die Begeisterung zu verstehen, müsse man allerdings wissen, was den West-Berlinern bis dahin alles zugemutet worden war: „Wir hatten in all den Jahren das Gefühl, dass es jederzeit zu einer bewaffneten Auseinandersetzungen kommen könnte.“
Das habe mit der Berlin-Blockade 1948/1949 begonnen, sich mit dem Ultimatum des sowjetischen Ministerpräsidenten Nikita Chruschtschow aus dem Jahr 1958 an die westlichen Alliierten, West-Berlin freizugeben, fortgeführt, und mit dem Mauerbau 1961 und der Kuba-Krise 1962 weiter gesteigert.
„Den West-Berlinern war klar, dass die US-Amerikaner weder allmächtig noch allwillig waren“, sagt Harald Karas, der 1952 sein 1949 begonnenes Studium der Publizistik und Soziologie an der Freien Universität gegen eine Festanstellung beim Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) Berlin tauschte.
1962 sei diese Empörung besonders zu spüren gewesen, als der angeschossene DDR-Flüchtling Peter Fechter nur 100 Meter vom Checkpoint Charlie entfernt um sein Leben kämpfte, die US-amerikanischen Soldaten ihm aber nicht zur Hilfe eilten. „Sie hatten ihre Weisungen, wie seinerzeit die Generäle beim Bau der Mauer, nicht einzugreifen.“
Wobei man auch berücksichtigen müsse, sagt Karas, dass den rund 500 000 Soldaten der Roten Armee und der DDR lediglich 6000 alliierte Soldaten in West-Berlin entgegenstanden. „Ein Überfall über Nacht wäre möglich gewesen. Das hätte das Ende West-Berlins bedeutet“, sagt Harald Karas.
„Und nun kam John F. Kennedy nach Berlin und gab durch seinen Satz ,Ich bin ein Berliner‘ eine Bestandsgarantie ab“, sagt Harald Karas. „Das hat die Menschen wahnsinnig begeistert.“ Noch auf dem Rollfeld des Flughafens Tegel bei der Abreise am Abend des 26. Juni soll John F. Kennedy zu seinem Berater Ted Sorensen gesagt haben, dass sie einen solchen Tag wie in Berlin nie wieder erleben würden. Eine Prophezeiung, die sich alsbald durch das Attentat auf John F. Kennedy am 22. November 1963 auf tragische Weise erfüllen sollte.