Das gestohlene Leben
Die iranische Anglistin Neda Soltani ist die erste Stipendiatin der Organisation für bedrohte Wissenschaftler „Scholars at Risk“ an der Freien Universität.
16.04.2013
Keine Perspektive zu haben, ist das Schlimmste im Leben.“ Neda Soltani weiß, wovon sie spricht. Vor knapp vier Jahren, im Juli 2009, musste die Iranerin Hals über Kopf ihre Heimat verlassen. Als sie sich nach dramatischer Flucht vor dem iranischen Geheimdienst als Asylbewerberin in Deutschland wiederfand, war sie in einem fremden Leben gelandet: Innerhalb weniger Tage war aus der erfolgreichen Anglistikdozentin und Hochschulmanagerin an der Universität in Teheran durch eine tragische Verwechslung und ohne eigenes Verschulden ein heimatloser Flüchtling geworden – allein und in einem fremden Land, ohne Familie, ohne Freunde, ohne Arbeit. „Was mir und meiner Familie angetan wurde, kann nie wiedergutgemacht werden“, sagt die Wissenschaftlerin. „Ich werde niemals mehr die sein, die ich einmal war.“
Wenn Neda Soltani heute sagt, dass sie wieder eine Perspektive habe, hat sie das vor allem sich selbst zu verdanken: ihrer Kraft und Klugheit und dem festen Willen, ihre akademische Karriere auch außerhalb ihrer Heimat fortzusetzen. Hierbei habe sie immer Unterstützung erfahren, sagt Neda Soltani.
Nach einem einjährigen Forschungsaufenthalt an der US-amerikanischen Montclair State University in New Jersey ist sie seit sechs Wochen wieder in Deutschland, in Berlin. An der Freien Universität will sie ihr Dissertationsprojekt vorantreiben, das sie in den USA begonnen hat. Die Hochschule unterstützt Neda Soltani mit einem Stipendium des internationalen Netzwerks „Scholars at Risk“ – einer Vereinigung, die sich für akademische Freiheit und Menschenrechte bedrohter Wissenschaftler und Wissenschaftsinstitutionen in der ganzen Welt einsetzt und der sich die Freie Universität als erste deutsche Hochschule angeschlossen hat.
Ihre literaturwissenschaftliche Doktorarbeit über Toni Morrison und den afro-amerikanischen Feminismus, die sie noch im Iran begonnen hatte, hat Neda Soltani schon vor einiger Zeit beiseitegelegt. „Es ist ein interessantes Thema“, sagt sie. „Aber mit meiner persönlichen Geschichte im Hintergrund erscheint mir eine soziopolitische Arbeit über die Situation der Frauen im Iran sinnvoller.“
Ihre persönliche Geschichte – das ist die Geschichte eines zufälligen, kafkaesk anmutenden Einschlags in ein Leben, das bis zum 21. Juni 2009 in guten und geordneten Bahnen verlief. An jenem Tag wurde die iranische Studentin Neda Agha-Soltan während der Proteste gegen die mutmaßlich manipulierten Präsidentschaftswahlen, die Mahmud Ahmadinedschad in seinem Amt als Staatspräsidenten bestätigten, erschossen. Das Video von der sterbenden jungen Frau ging um die Welt. Auf der Suche nach einem Foto der Studentin wurden die berichtenden Fernseh- und Print-Journalisten bei Facebook fündig: Sie setzten das Porträt einer jungen Iranerin mit Kopftuch neben die Todesmeldung und veröffentlichten die Nachricht weltweit.
Das Aufschreiben ihrer Geschichte war für sie wie eine Therapie
Ein verhängnisvoller, ein folgenschwerer Fehler. Denn das Foto zeigte nicht die tote Studentin Neda Agha-Soltan, sondern die Anglistikdozentin Neda Soltani. Deren Bemühungen, den Irrtum korrigieren zu lassen, scheiterten. Sie schickte E-Mails an Zeitungen und Fernsehsender, die ihr Foto gezeigt hatten, und bat um Richtigstellung. Keine Reaktion. Nicht von den US-amerikanischen TV-Sendern ABC, CNN, Fox News, nicht von der britischen BBC, nicht von den deutschen Sendern ARD und ZDF, auch nicht von Zeitungen und Zeitschriften: The New York Times, The Washington Post, The Guardian, Süddeutsche Zeitung, Der Spiegel – ein Medium übernahm vom anderen ungeprüft das falsche Bild. „Ich habe mich gefühlt wie auf meiner eigenen Beerdigung“, sagt Neda Soltani. Obwohl die Journalisten um den Fehler gewusst hätten, hätten sie ihr Foto weiter verbreitet. „Das ist absolut unethisch. So zerstört man einen Menschen“, sagt sie.
Ein Versehen? Schlampige Recherche? Absicht? Neda Soltani weiß es bis heute nicht. Als sie der iranische Geheimdienst vorlädt und ihr Spionage und Hochverrat vorwirft, will er sie zwingen, den Tod der Studentin als westliche Propaganda abzutun. Neda Soltani soll offiziell bestätigen, dass die Demonstrantin nicht tot sei, ihr Foto sei der Beweis dafür. Als sie sich weigert, drohen ihr Verhaftung und Folter.
Neda Soltani flieht aus dem Iran. Mit einem Visum für den Schengen-Raum, das zehn Tage gültig ist, reist sie über die Türkei und Griechenland nach Deutschland. Die Weiterreise in ein englischsprachiges Land in Europa ist ihr nicht möglich, weil Großbritannien und Irland dem Schengener Abkommen nur eingeschränkt beigetreten sind. Neun Monate lang lebt die Iranerin in Heimen für Asylbewerber in Gießen und bei Offenbach. Sie lernt Deutsch: insgesamt 900 Stunden, drei Semester lang. Als Englischdozentin weiß sie, wie man eine Sprache lehrt und lernt, sie lernt schnell. Über eine Agentur findet sie einen Verlag, sie will ihre Geschichte erzählen. Nur zehn Monate braucht sie für das Manuskript. Im Frühjahr 2012 erscheint „Mein gestohlenes Gesicht“ im Kailash-Verlag unter dem Dach von Random House. Das Niederschreiben sei eine Art Therapie gewesen, sagt Neda Soltani – die habe allerdings nur bedingt geholfen: „Ich muss damit leben. Ob ich meine Geschichte erzähle oder nicht, sie wird mich mein Leben lang begleiten.“
Neda Soltani ist eine strahlende und selbstbewusste Frau, offen und lebendig. Die Kraft, sich in einem fremden Leben ein neues aufzubauen, habe sie wohl von ihrer Mutter und Großmutter, sagt sie – und manchmal denke sie: „Wow, ist mir das wirklich passiert? Man kennt seine eigenen Grenzen nicht und weiß nicht, wie viel man aushalten kann.“ Oft werde sie gefragt, wie sie lachen könne nach allem, was sie erlebt habe. „Es geht doch nur so“, sagt sie dann. „Mein Leben ist schon kompliziert genug, wenn ich mutlos würde, wäre es noch schwieriger.“
Auf die Arbeit an ihrer Dissertation freut sie sich. Sie knüpft Kontakte, auch mit Wissenschaftlern der Graduiertenschule Muslim Cultures and Societies, die im Zuge der Exzellenzinitiative an der Freien Universität eingerichtet wurde. Dankbar ist sie für die erfahrene Unterstützung, etwa von den Mitarbeitern der Abteilung für Außenangelegenheiten der Freien Universität: „Ich bin so froh, hier zu sein. Ich bekomme von allen Hilfe.“
In den vergangenen Jahren habe sie kein Zuhause gehabt, sagt Neda Soltani, nur das Gefühl, nirgendwohin zu gehören. In Berlin fühlt sie sich wohl, die Stadt sei lebendig und für sie grenzenlos: „Berlin ist in Deutschland der beste Ort für mich. Hier kann ich mir vorstellen zu bleiben.“
Hilfe für bedrohte Wissenschaftler
Weltweit werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufgrund ihrer Forschungen und Ideen in ihrer Arbeit eingeschränkt, bedroht und verfolgt. Das Internationale Netzwerk „Scholars at Risk“(SAR) setzt sich für akademische Freiheit und die Menschenrechte von Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Institutionen in aller Welt ein. Zu der Organisation, die 1999 an der US-amerikanischen Columbia University gegründet wurde, gehören heute mehr als 250 Einrichtungen in 30 Ländern. Eine der Kernaufgaben der Organisation ist es, Wissenschaftler, die in ihrem Heimatland bedroht und verfolgt werden, mit einem Gastaufenthalt an einer der Mitgliedshochschulen des Netzwerks zu unterstützen.Verfolgte erhalten die Chance, eine Zeit lang unabhängig zu forschen. Die Freie Universität Berlin ist als bisher einzige deutsche Hochschule Mitglied des SAR-Netzwerks, das weltweit mehr als 100 Mitglieder zählt.
Der Präsident der Freien Universität, Professor Peter-André Alt, erklärte, die Mitgliedschaft in dieser wichtigen Organisation entspreche „unserem historisch gewachsenen Selbstverständnis als einer in Zeiten des Kalten Kriegs gegründeten, für die Wissenschaftsfreiheit eintretenden Universität. Und sie unterstreicht, dass Internationalität für uns Verpflichtung zur Sicherung dieser Freiheit ist.“ Im Rahmen eines Workshops an der Freien Universität diskutierten Ende März Vertreter von Universitäten aus einem Dutzend europäischer Länder mit bedrohten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Repräsentanten von SAR und anderen Hilfsorganisationen über das Thema „Akademische Freiheit“.Die Delegierten einiger deutscher Universitäten, darunter Göttingen, Köln und die Humboldt-Universität zu Berlin, erklärten im Anschluss ihre Absicht, ebenfalls dem SAR-Netzwerk beizutreten, mit dem Ziel, ein eigenes SAR-Chapter in Deutschland zu gründen.Die iranische Anglistin Neda Soltani ist die erste von der Freien Universität unterstützte Stipendiatin; als bedrohte Wissenschaftlerin genießt sie Gastrecht an der Freien Universität und erhält dort ein Stipendium für ihre Promotion.