Ziemlich beste Freunde
Ein Selbstläufer war die Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich noch nie. Dennoch hat die deutsch-französischen Freundschaft eine lange Tradition an der Freien Universität.
12.06.2015
Das Bild ist fast zu schön, um wahr zu sein: Deutschland, das Land der wirtschaftlich erfolgreichen Umweltschützer. Und Frankreich, das Land der glücklichen und mit Hochkultur gesegneten Familien. Laut einer Umfrage zum 50. Jahrestag des Elysée-Vertrags im Jahr 2013 hatten Deutsche und Franzosen voneinander zwar viele Klischees vor Augen, aber mit Sicherheit nicht die schlechtesten: 46 Prozent der Franzosen und 45 Prozent der Deutschen denken laut der Studie weder an Krieg noch an Frieden, wenn es um das Nachbarland geht. Sie denken immer häufiger an Alltagsdinge wie die Automarken des Nachbarn, das Essen, die Sprache oder die Musik. Immer mehr Franzosen können sich vorstellen, in Deutschland Urlaub zu machen. Und immer mehr Deutsche halten es für möglich, in Frankreich zu arbeiten.
Diese schrittweise Annäherung ist nicht nur dank des Bemühens von Politikern geschehen, sondern vor allem das Resultat des intensiven Austauschs zwischen den Bürgern, ob nun in Form von Städtepartnerschaften, Schüleraustauschen, universitären Kooperationen oder gegenseitigen Besuchen. Das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW), das 1963 aus der Taufe gehoben wurde, hat seit seiner Gründung rund acht Millionen Jugendlichen aus Deutschland und Frankreich einen Aufenthalt in dem jeweils anderen Land ermöglicht. Diese privaten Kontakte haben dazu beigetragen, dass die Reise ins Nachbarland heute wie eine Selbstverständlichkeit erscheint.
Doch trotz dieser guten zwischenmenschlichen Beziehungen kommt es auf politischer Ebene immer wieder zum Konflikt – vor allem wenn es darum geht, die Richtung Europas zu bestimmen. Eurobonds, erneuerbare Energien, die Rolle des Staates: Bei all diesen Punkten geraten die beiden Länder regelmäßig aneinander. Warum es immer wieder knirscht, weiß Sabine von Oppeln. Die Sozialwissenschaftlerin, die am Otto- Suhr-Institut der Freien Universität Berlin Politikwissenschaft unterrichtet, ist Stellvertretende Leiterin der Arbeitsstelle Europäische Integration und untersucht die Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich seit vielen Jahren.
Sie verweist auf die unterschiedlichen Vorstellungen und Politikmodelle, um die Spannungen zu erklären. „Deutschland und Frankreich verfolgen unterschiedliche Ziele innerhalb der Europäischen Union“, sagt die Politologin. Deutlich werde das etwa am Beispiel Wirtschaftspolitik: Während Frankreich sich für eine nachfrageorientierte Strategie engagiere und durch Schuldenaufnahme eine Förderung des Wachstums befürworte, setze sich Deutschland für einen angebotsorientierten Kurs ein und bevorzuge das Sparen. „Deutschland hat eine exportorientierte Ökonomie und ist an der Öffnung der Märkte interessiert. Frankreich tendiert dagegen eher zu protektionistischer Politik“, fasst von Oppeln die grundlegenden Unterschiede zusammen.
Deutschland und Frankreich sind Handelspartner, aber auch Konkurrenten mit eigenen wirtschaftlichen Interessen, Leitbildern und Zielen. Frankreich sieht den Staat für den sozialen Ausgleich verantwortlich, während Deutschland ein wirtschaftsliberales Handeln bevorzugt und der Autonomie der Tarifpartner einen hohen Stellenwert einräumt.
Auch im Blick auf die institutionelle Struktur der Europäischen Union gibt es immer wieder Reibungspunkte. „Frankreich geht von der Idee der unteilbaren Souveränität aus und tut sich schwer, seine nationalen Kompetenzen an die europäische Ebene abzugeben. Für Deutschland ist die Teilung und Abgabe von Souveränität viel einfacher.“
... dann klappt es auch mit dem Nachbarn
Dass eine politische Einigung jedoch möglich ist, hat die jüngere Geschichte mehrfach bewiesen – und das unter scheinbar widrigen Bedingungen. Denn hinter den Dissonanzen zwischen Deutschland und Frankreich verbergen sich weniger ideologische als nationale Denkmuster, erklärt Sabine von Oppeln. „In der Vergangenheit hat es etwa kaum eine Rolle gespielt, welche Partei gerade an der Macht war. Wir hatten Vertreter aus unterschiedlichen Richtungen, die miteinander sehr gut kooperierten: zum Beispiel Valéry Giscard d’Estaing aus dem konservativen Lager auf der einen Seite und Helmut Schmidt aus dem sozialdemokratischen auf der anderen.“
Bis heute gälten die beiden ehemaligen Regierungschefs trotz unterschiedlicher Parteibücher als Vorbild für das deutsch-französische Verhältnis. Ähnlich verhalte es sich mit Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl und dem ehemaligen französischen Premier François Mitterrand. Mit Blick auf die Zusammenarbeit zwischen dem Sozialisten Hollande und der Christdemokratin Merkel gebe es also durchaus Grund zur Hoffnung, sagt Sabine von Oppeln.
Sie sieht in den Unterschieden auch Chancen. Denn die verschiedenen Bedürfnisse der beiden Länder würden wie ein Brennglas die Interessen vieler anderer EU-Mitgliedsländer spiegeln. „Häufig ist es gerade die Komplementarität deutscher und französischer Interessen, die die Kompromissbildung nicht nur zwischen Deutschland und Frankreich, sondern in der Europäischen Union insgesamt ermöglicht.“ Denn Deutsche und Franzosen repräsentierten nicht selten unterschiedliche Lager in der EU. „Allerdings ist diese Form der deutsch-französischen Führung mit dem Anwach-sen der Zahl der Mitgliedsstaaten immer schwieriger geworden“, räumt von Oppeln ein.
Doch was passiert mit Europa, wenn der deutsch-französische Motor nur noch stottert? Sabine von Oppeln geht von einem herausfordernden Jahrzehnt aus, weil die Entscheidungen auf europäischer Ebene immer mehr die Innenpolitik beeinflussten. Für die Nationalstaaten heiße das im Umkehrschluss: Bei europäischen Entscheidungen steht mehr auf dem Spiel. „Das macht es schwierig, Kompromisse zu finden.“ Die Wissenschaftlerin glaubt, dass ein radikales Umdenken stattfinden muss, damit die Probleme der Zukunft gelöst werden können.
„Wünschenswert wäre es, wenn Parteien und Gewerkschaften stärker zusammenarbeiteten, als das bisher der Fall war. Medien müssten zwischen den beiden Bevölkerungen noch besser vermitteln. Auch Parteien und Gewerkschaften orientieren sich viel zu stark an nationalen Diskursen, anstatt eine gemeinsame europäische Politik als Erfolgsmodell für beide Nationalstaaten zu kommunizieren“, sagt Sabine von Oppeln. Eine intensive Zusammenarbeit und transnationale Vermittlung auf allen Ebenen sei jetzt besonders gefragt. Eine Art der Zusammenarbeit, die an der Freien Universität Berlin schon Tradition hat.
Seit 1984 kooperieren Sciences Po und Freie Universität Berlin
Bereits Anfang der Achtziger Jahre entstand die Idee, Deutsche und Franzosen zusammenzubringen und einen Studienaustausch zwischen der Freien Universität und dem Pariser Institut d’Etudes Politiques, kurz Sciences Po, zu organisieren. 1984 ging das Programm in die Pilotphase. Sechs Jahre später wurde der erste gemeinsame Studiengang, der „deutsch-französische Studienzyklus in Politik- und Sozialwissenschaften“ eingerichtet. „Danach folgte eine Zeit der Reformen, die seit Ende der neunziger Jahre vor allem von der Bologna- Umstellung auf beiden Seiten geprägt war; Ziel dieser europaweiten Reform war es, Studiengänge und -abschlüsse in allen EU-Mitgliedsstaaten zu harmonisieren“, sagt Sabine von Oppeln, die das Programm von Anfang an begleitet hat.
Heute stehen die deutsch-französischen Studiengänge auf festen Beinen: Seit 2008 gibt es den Doppelmaster- Studiengang Politikwissenschaft mit der Ausrichtung Affaires Internationales oder Affaires Européennes (Internationale oder Europäische Angelegenheiten) sowie den neu eingerichteten Doppelbachelorstudiengang Politikwissenschaft-Sciences Sociales in Kooperation mit Sciences Po. Außerdem den Doppelmaster-Studiengang Public Policy & Management, der seit 2008 gemeinsam mit der École des Hautes Etudes Commerciales de Paris (HEC) angeboten wird.
Die verschiedenen Studiengänge, die Sabine von Oppeln koordiniert, machen es möglich, dass deutsche und französische Studierende sowie Studierende aus aller Welt – die Politiker, Wissenschaftler, Manager und Ökonomen der Zukunft – sich treffen und kennenlernen, in beiden Ländern gemeinsam studieren und auf diese Weise die Zusammenarbeit stärken. Daher versteht Sabine von Oppeln die Kooperation zwischen der Freien Universität Berlin und Sciences Po in Paris als einen wichtigen Baustein der grenzübergreifenden akademischen Zusammenarbeit.
Europa braucht transnationale Debatten
„Im europäischen Rahmen brauchen wir transnationale Debatten“, ist Sabine von Oppeln überzeugt. Das betreffe alle Politikbereiche – wie etwa die Integrationspolitik. Der Anschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ in Paris habe gezeigt, dass man über einen neuen Umgang mit dem Islam sprechen müsse. „Durch diese Anschläge ist in beiden Ländern das Bewusstsein dafür gestärkt worden, dass eine Spaltung der Gesellschaften droht“, sagt die Politologin. „Wir haben auf der einen Seite diese dramatischen Attentate erlebt, auf der anderen Seite beobachten wir in Frankreich einen enormen Anstieg von Angriffen auf muslimische Einrichtungen. In Deutschland wiederum gibt es islamfeindliche Demonstrationen.“
Es werde Zeit, über eine gemeinsame Integrationspolitik zu diskutieren. Wie sieht eine gelungene Integration aus? Wie sollte der Umgang innerhalb einer multikulturellen Gesellschaft sein? Welche Rolle spielt der Islam in Europa? Diese und andere Fragen betreffen nicht nur Deutschland und Frankreich, sondern alle Länder der Europäischen Union. Auch hier stünden die beiden Länder für zwei unterschiedliche Integrationsmodelle, erklärt Sabine von Oppeln. „In Frankreich herrscht das Konzept der Assimilation, in Deutschland das Konzept der Anerkennung von Differenzen. In Frankreich sammeln sich viele Immigranten in den Vorstädten. In Deutschland gibt es solche ‚Banlieus‘ nicht.“ Nach den Attentaten von Paris sei jetzt klar: Nicht nur die Verteidigungs-, sondern auch die Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik müsse transnational diskutiert werden. Ansonsten wäre eine wichtige Chance zur engeren Zusammenarbeit vertan.
Die Expertin
Dr. Sabine von Oppeln
Sie ist die Ansprechpartnerin par excellence, wenn es um die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich geht: Sabine von Oppeln studierte Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und promovierte dort mit „summa cum laude“ über die Kernenergie und die Haltung der politischen Parteien in Deutschland und Frankreich. Gastprofessuren und Lehraufträge führten sie nach Frankreich und Russland. 2008 rief Sabine von Oppeln – neben dem inzwischen zum deutsch-französischen Doppelmaster-Studiengang fortentwickelten Programm mit Sciences Po – gemeinsam mit der Ecole des Hautes Etudes Commerciales (HEC Paris) den länderübergreifenden Doppelmaster Public Policy und Management ins Leben. Für ihre Verdienste um die deutsch-französischen Beziehungen wurde sie mit dem nationalen Verdienstorden („officier de l’Ordre National du Mérite) ausgezeichnet.
Kontakt:
Freie Universität Berlin
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft
E-Mail: oppeln@zedat.fu-berlin.de