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Rechts überholt?

Bei der Europawahl 2014 ging fast jede fünfte Stimme an eine rechtspopulistische Partei, auch 2015 hoffen diese wieder auf Stimmenzuwächse. Mit dem Phänomen des neuen Nationalismus beschäftigen sich Wissenschaftler der Freien Universität.

12.06.2015

Joschka Fischers Sorge ist groß: Noch kurz vor der Parlamentswahl in Griechenland Ende Januar warnte der ehemalige Außenminister vor der „Wiedergeburt eines Nationalismus in Europa“. Diese Tendenz zur Renationalisierung habe sich bereits im Ergebnis der Europawahlen im Frühjahr 2014 gezeigt, bei der fremdenfeindliche, anti-europäische und nationalistische Parteien sehr gut abgeschnitten hätten, schrieb er in einem Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“. Ein Trend, der ungebrochen anhalte, fürchtet Fischer.

Das Wahljahr 2015 wird zeigen, ob rechtsgerichtete und demokratiefeindliche Parteien Erfolg haben.

Das Wahljahr 2015 wird zeigen, ob rechtsgerichtete und demokratiefeindliche Parteien Erfolg haben.
Bildquelle: dpa/picture alliance

Tatsächlich könnten die Ergebnisse der Europa- und Griechenlandwahl den Beginn eines neuen Kapitels der Europäischen Union markieren, in der vor allem extreme EU-Kritiker den Ton angeben. Im Wahlkampf gehen euro-kritische bis anti-europäische Parteien immer erfolgreicher auf Stimmenfang. Etwa die linkssozialistische Syriza, die mit diesem Kurs in Griechenland erst im Januar an die Macht gekommen war. Dabei half Syriza-Chef Tsipras ausgerechnet eine Koalition mit der rechtspopulistischen Anexartiti Ellines (ANEL). Die Politik der „Unabhängigen Hellenen“ und ihres Parteivorsitzenden Panos Kammenos ist rechtspopulistisch, der Kampf gegen Überfremdung und Migration ist eines ihrer wichtigsten politischen Ziele.

Die Angst vor einer Überfremdung wird instrumentalisiert

Auch in anderen europäischen Ländern schwenken immer mehr Parteien auf einen ähnlichen Kurs ein: Die Wahren Finnen, die Dänische Volkspartei, die United Kingdom Independence Party (UKIP), der französische Front National, die Neu-Flämische Allianz und hierzulande die Alternative für Deutschland. Auch wenn sie sich im Detail ihrer Programme unterscheiden, so haben diese rechtspopulistischen Parteien doch etwas gemeinsam, was ihnen in die Karten zu spielen scheint – und ihnen Wähler zutreibt: Die propagierte Angst vor einer Überfremdung, die Furcht vor einer weiteren europäischen Integration. Die zunehmende Globalisierung betrachten sie als zusätzliche Bedrohung, nicht als Chance für sich und ihr Land.

In diesem Jahr wurde und wird in acht EU-Ländern gewählt – darunter in Frankreich, Großbritannien, Spanien und Portugal. Erst am Ende des Jahres wird man bilanzieren können, wieviel Erfolg diejenigen Parteien haben, die auf bestehende Probleme nationale Lösungen anbieten. Das Beispiel UKIP machte im Mai bei den Wahlen in Großbritanien deutlich: Durchschlagender Erfolg kann auch ausbleiben.

Eine Entwicklung, die Europa so ähnlich schon einmal durchgemacht habe, sagt Arnd Bauerkämper, Professor für Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität: „Prinzipiell erleben wir ein Phänomen, das in Europa bereits im 19. Jahrhundert mit der ersten Phase der Globalisierung im Zuge der zunehmenden Handelsströme aufgetreten ist und sich seither immer wieder durch die europäische Geschichte gezogen hat.“ Viele politische Änderungen und Hinwendungen zu neuen politischen Ideen erzeugten Ängste, aus denen heraus ein Hang zur Ausgrenzung des Fremden und Rückbesinnung auf das vermeintlich Eigene entstehe. „Insofern war der Nationalismus nie einfach verschwunden, sondern er hat immer wieder einen Formenwandel erlebt“, sagt Arnd Bauerkämper.

Bemerkenswert an der aktuellen Form des Nationalismus‘ sei, dass nach den Schrecken des Nationalsozialismus und dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein großes Versprechen abgelehnt werde: Das Projekt „Europa“. Viele Europäer nähmen es offenbar weniger als Garant für Frieden und Freiheit wahr, sondern als Belastung und Bedrohung. Besonders in den südeuropäischen Ländern, die gegen Rezession und Arbeitslosigkeit kämpften, werde die europäische Politik von großen Teilen der Bevölkerung als Zumutung wahrgenommen. Im wirtschaftlich starken Norden Europas hätten Menschen aber ebenso diffuse Ängste, zeigten Verunsicherung und konstruierten Feindbilder, die auf Orientierungslosigkeit hinwiesen und die Furcht vor Statusverlust widerspiegelten – was wiederum von rechtspopulistischen Parteien aufgegriffen und verstärkt werde.Nationalismus suggeriere, diesen Ängsten mit dem Rückzug auf das vermeintlich ‚Eigene‘ etwas entgegensetzen zu können.

Globalisierung als Bedrohung für das britische Empire

Ein Beispiel für einen solchen Rückzug sei auch in Großbritannien zu beobachten, wo die rechtspopulistische und EU-kritische UKIP unter ihrem Vorsitzenden Nigel Farage zunehmende Erfolge verzeichnete. „Die UKIP fährt ganz klar einen nationalistischen Kurs. Sie strebt einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU an – und zwar nicht nur, um ökonomisch unabhängig zu sein, sondern auch, um britische Werte zu bewahren. Globalisierung wird von ihren Anhängern als Bedrohung für das britische Empire empfunden – und nicht etwa als Chance“, sagt Bauerkämper, zu dessen Forschungsschwerpunkten auch die Geschichte Großbritanniens im 19. und 20. Jahrhundert gehört.

Mit diesem Kurs erreichte die UKIP bei den Europawahlen im vergangenen Jahr 28 Prozent der Stimmen und wurde mit 24 Sitzen die stärkste britische Partei. Auf nationaler Ebene reüssierte sie im November 2014 bei einer Nachwahl im Wahlkreis Rochester in Kent: UKIP-Kandidat Mark Reckless siegte mit einer Mehrheit von 42,1 Prozent gegen die zweitplatzierte Mitbewerberin Kelly Tolhurst von der Konservativen Partei. Auf nationaler Ebene gelang der Durchbruch nicht, wie sich bei den Wahlen zum britischen Unterhaus nun zeigte. Bauerkämper hatte zu Recht bezweifelt, dass die UKIP dabei groß punkten würde: „Das britische Mehrheitswahlrecht setzt den kleinen Parteien sehr hohe Hürden entgegen. Viele Wähler überlegen sich deshalb gut, ob sie ihre Stimme an eine eher kleine Partei wie die UKIP quasi verschenken.“ Die UKIP wurde nach Stimmen zwar drittstärkste Kraft, das reichte aber wegen des Mehrheitswahlrechts nur für einen der knapp 650 Sitze im Unterhaus.

Dennoch gelang es der Partei, ihre Themen auf die nationale Agenda zu setzen, und sie brachte Premier David Cameron dazu, eine zunehmend EU-kritische Haltung einzunehmen. Eine Strategie, die Bauerkämper skeptisch sieht. „Viele UKIP-Anhänger empfinden die Entwicklung bezüglich der Einwanderung und der wirtschaftlichen Entwicklung viel dramatischer, als sie wirklich ist. Ziel der Regierung und der etablierten Parteien muss deshalb nicht zuletzt sein, diese Fehlwahrnehmung zu korrigieren.“ Problematisch sei beispielsweise, dass viele Einwanderer isoliert in Wohngebieten lebten. „Diese Segregation muss aufgelöst werden, und es sollte durch eine zunehmende Integration dafür gesorgt werden, dass die Ängste vor Überfremdung abnehmen.“

In Dresden hatte die geschürte Angst vor einer Überfremdung Anfang des Jahres sogar mehr als 25.000 Menschen auf die Straße getrieben. Organisiert wurde der Protestmarsch von der Vereinigung Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida). Durch den zunächst wachsenden Erfolg von Pegida ist offenbar ein Klima entstanden, in dem die Gewalt gegen Ausländer in Deutschland steigt: Seit Beginn der Demonstrationen im Herbst 2014 hätten sich Angriffe gegen Flüchtlinge, Migranten und ihre Unterkünfte mehr als verdoppelt, berichtete das ARD-Magazin „Report Mainz“ Ende Januar. In den drei Monaten vor dem ersten Pegida-Marsch am 20. Oktober habe es bundesweit 33 Übergriffe auf Migranten und Flüchtlinge gegeben, in den drei Monaten danach 76.

Die Übergriffe reichen dem Bericht zufolge von Hakenkreuzschmierereien an Flüchtlingsunterkünften bis hin zu brutalen Angriffen auf Ausländer. Auch in Frankreich hat sich das Klima verschärft, seit islamistische Attentäter Anfang Januar 2015 Anschläge auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ und einen jüdischen Supermarkt verübten und zahlreiche Menschen töteten. Sowohl Juden als auch Muslime fühlen sich seither zunehmend bedroht. Werden wir also nach der Finanz- und Eurokrise in der Europäischen Union nun eine politische Krise erleben? Eine Krise, die die Europäische Union im Zuge eines neuen Nationalismus in ihren Grundpfeilern erschüttern könnte?

Hajo Funke, Rechtsextremismus-Experte und Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin sieht „starke Anzeichen dafür, dass wir in Europa derzeit wieder einen neuen Nationalismus erleben – und zwar in verschiedenen ethno-nationalistischen Ausprägungen.“ Dabei seien Europas Krisen unmittelbar mit dem Aufstieg des europaweiten Nationalismus verbunden. Erst die auf sich selbst konzentrierte Politik des Sparens und der Haushaltsdisziplin habe Europa in eine soziale, politische und damit auch kulturelle Schieflage gebracht. Sie bilde einen Nährboden für Ärger, Wut und Aggression, die oft auf Minderheiten abzielten.

Das Ausmaß dieser ethnonationalistischen Aggressivität sei in den vergangenen Jahren durch die globale und europäische Finanzkrise noch einmal verstärkt worden. „Was wir deshalb dringend brauchen, ist ein neues Projekt Europa mit einem Friedens- und sozialen Integrationskonzept, denn die Verteilungskonflikte nehmen jetzt noch zu“, betont Funke. Islamistische Attentate wie die Anschläge von Paris könnten der Entwicklung des neuen Nationalismus weiteren Vorschub leisten, fürchtet er: „Anschlagsdrohungen mobilisieren möglicherweise Ängste, was wiederum Wasser auf die Mühlen derjenigen ist, die Ressentiments schüren wollen.“ Doch eine solche Entwicklung sehe er in Deutschland derzeit noch nicht. „Trotz der Attentate hat die deutsche Bevölkerung differenziert reagiert“, sagt Hajo Funke – selbst wenn es den politisch Verantwortlichen in Sachsen nicht gelungen sei, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen. Auch deshalb habe die „Pegida“-Bewegung in Dresden und andernorts so viele Anhänger gewinnen können.

Sabine Kropp, die am Otto-Suhr-Institut als Professorin über das politische System der Bundesrepublik Deutschland forscht, verweist bei den Problemen mit dem Nationalismus auf die sogenannte Kontakthypothese: „Fremdenfeindlichkeit entwickelt sich dort stärker, wo Menschen weniger mit Fremden konfrontiert sind und diesen gegenüber deshalb stärkere Ängste entwickeln.“ Ein gutes Beispiel dafür seien Dresden und das Bundesland Sachsen. Obwohl der Anteil der Muslime an der Bevölkerung in Sachsen gerade einmal 0,1 Prozent betrage, habe sich Dresden zur „Pegida“-Hochburg entwickelt.

Derzeit deute jedoch vieles darauf hin, dass sich der Protest verlaufe. Die etablierten Parteien distanzierten sich von rechten Ressentiments. Bei der populistischen AfD würden zwar rechte Töne laut. Doch schlage die Partei damit einen riskanten Kurs ein, wenn sie ihre wirtschaftspolitische Ausrichtung zugunsten einer fremdenfeindlichen und integrationsskeptischen Haltung aufgebe, ist Sabine Kropp überzeugt: „Die AfD wird dann die Anhänger verlieren, die in der bürgerlichen Mitte verortet sind.“

Dass sich neben der UKIP auch in Großbritannien eine Bewegung wie Pegida etablieren könnte, glaubt Arnd Bauerkämper nicht. Der britische Pegida-Ableger, dessen Anhänger Anfang März unter anderem in London demonstrierten, werde eine Eintagsfliege bleiben, sagt der Wissenschaftler: „Die UKIP hat es sich bereits zum Ziel gesetzt, Einwanderung weiter einschränken zu wollen. Für einen Pegida-Ableger bleibt damit keine eigenes Thema mehr, um sich abzugrenzen und zu punkten.“

Das Wahljahr 2015 wird zeigen, wie erfolgreich Rechtspopulisten sind

Aber auch in Deutschland sieht Bauerkämper für Pegida keine Zukunft mehr. „Pegida is over, die Bewegung hat sich selber zerlegt – was aber sicher nicht bedeutet, dass sich die Ängste der Anhänger erledigt haben. Diese müssen von der Politik und den etablierten Parteien ernst genommen und aufgegriffen werden, damit Bewegungen wie Pegida und auch rechtspopulistische Parteien künftig keine Chance mehr haben.“

Das Wahljahr 2015 wird zeigen, ob die nationalistischen Bewegungen in der EU bei den Wählern weiter an Attraktivität gewinnen – oder ob das Erstarken rechtspopulistischer und anti-europäischer Parteien womöglich nur vorübergehend ist. Dafür müsste den etablierten Parteien jedoch eines gelingen: den Bürgern zu vermitteln, dass Europa nie lebenswerter war.

Prof. Dr. Sabine Kropp

Nach dem Studium an den Universitäten Erlangen- Nürnberg und Moskau arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politische Wissenschaften der Universität Erlangen-Nürnberg, wo sie auch promoviert und habilitiert wurde. Es folgten Stationen in Magdeburg, Potsdam und Düsseldorf. Bis 2013 war sie Inhaberin des Lehrstuhls Politikwissenschaft an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, bevor sie den Ruf der Freien Universität Berlin auf die Professur Politisches System der Bundesrepublik Deutschland annahm. Zu den Themen ihrer aktuellen Forschung gehört unter anderem das Projekt „Governance in Russland“, das von der METRO-Stiftung gefördert wird.
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Freie Universität Berlin
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft
E-Mail: polsystem@polsoz.fu-berlin.de


Prof. Dr. a. D. Hajo Funke

Nach Stationen in Harvard und Berkeley übernahm Funke 1993 die Professur für Politik und Kultur am Otto-Suhr-Institut für Politische Wissenschaften der Freien Universität Berlin. Bis zu seiner Emeritierung im April 2010 lehrte und forschte er an der Freien Universität Berlin. Schwerpunkte seiner Arbeit waren unter anderem Nationalismus, die US-amerikanischen Rechte sowie rechte Gewalt in Deutschland. Nach wie vor arbeitet der Politikwissenschaftler zu Rechtsextremismus und Antisemitismus in Deutschland, etwa als Beobachter des NSU-Prozesses.
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Freie Universität Berlin
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft
E-Mail: hfunke@zedat.fu-berlin.de

Univ.-Prof. Dr. Arnd Bauerkämper

Arnd Bauerkämper ist seit 2009 Professor für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts am Friedrich- Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. In Forschung und Lehre befasst er sich unter anderem mit der Geschichte Großbritanniens im 19. und 20. Jahrhundert, dem Faschismus in Europa, der Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und der DDR sowie der Demokratie, Philanthropie und Zivilgesellschaft in Westdeutschland im transatlantischen Verhältnis zu den USA. Eines seiner aktuellen Forschungsprojekte beschäftigt sich mit „Sicherheit und Menschenrechten in Europa im 20. Jahrhundert“. Dazu untersucht er den Terrorismus seit den 1970er Jahren und die Internierung von Feindstaatenangehörigen während der beiden Weltkriege.
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Freie Universität Berlin
Friedrich-Meinecke-Institut
E-Mail: baue@zedat.fu-berlin.de