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Showdown beim Milliarden-Poker

Wie Griechenland, Portugal, Irland, Zypern, Lettland mit Geldgebern über Kreditprogramme verhandeln und um Kredite und Konditionen ringen, untersuchen Politikwissenschaftler der Freien Universität Berlin.

12.06.2015

Ob es nun um Taschengeldverhandlungen mit den Eltern geht oder den Gehaltspoker mit dem Chef, das Problem ist das gleiche: Wer Geld von jemandem haben möchte, ist in der schwächeren Verhandlungsposition. Er muss etwas anbieten können als Gegenleistung – zum Beispiel mehr Engagement in der Schule oder im Job. Damit man diese Leistung auch wirklich erfüllen kann, empfiehlt es sich, schon vorab eine Strategie zu entwickeln. Statt nur noch beste Zensuren zu versprechen, sollte man „Besserung“ geloben. Eine Vier in der Klassenarbeit kann dann getrost gefeiert werden. Denn selbst strenge Eltern müssten akzeptieren, dass das besser ist als die Fünf oder Sechs davor.

Zankapfel und Forschungsobjekt: Die gemeinsame europäische Währung

Zankapfel und Forschungsobjekt: Die gemeinsame europäische Währung
Bildquelle: photocase/webbostat www.photocase.de/foto/38412-stock-photo-geld-euro

Was im Kleinen gilt, gilt auch im Großen, wie sich an der Finanz- und Eurokrise zeigt: Wer Geld von anderen europäischen Staaten oder der sogenannten Troika aus Internationalem Währungsfonds (IWF), Europäischer Kommission (EUK) und Europäischer Zentralbank (EZB) bekommen will, muss harsche Auflagen akzeptieren – oder sich etwas einfallen lassen, um diese soweit wie möglich abzumildern.

Die Forschung kommt den aktuellen Ereignissen kaum hinterher

Griechenland ist das derzeit prominenteste Beispiel, doch es ist bei Weitem nicht das einzige. Wie das Pokerspiel in Europa funktioniert, untersucht Susanne Lütz. Die Professorin für Internationale Politische Ökonomie am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin möchte herausfinden, was jene Staaten, die von der Troika oder von europäischen Ländern Geld brauchten, getan haben, um es zu bekommen. Und was sie taten, um die Auflagen so weit wie möglich zu lockern. Susanne Lütz startete dazu im Januar das Projekt „Kreditvergabe als Zwei- Ebenen-Spiel: Troika-Schuldner-Verhandlungen in der Eurozone.“

Das Vorhaben wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit 450.000 Euro gefördert. Bis kurz nach Projektbeginn nahm die Forscherin an, ihre Untersuchung am Beispiel von Lettland, Irland, Portugal, Zypern und Griechenland finde auf der Basis geschlossener Akten statt. Mit Ausnahme von Zypern und Griechenland waren die Kreditprogramme für alle Länder beendet, und auch diese beiden Staaten schienen auf einem guten Weg. Doch dann kam die Neuwahl in Griechenland – und plötzlich hatten Susanne Lütz und ihre vier Mitarbeiter, darunter zwei Doktoranden, einen Fall in ihren Untersuchungsobjekten, der quasi „live on Air“ ist. Und alles andere als abgeschlossen. Das sei zwar sehr spannend, sagt die Forscherin, erschwere aber die Arbeit auch.

Der Mitarbeiter, der für Griechenland zuständig sei, habe dieser Tage Schwierigkeiten, den sich überschlagenden Entwicklungen überhaupt hinterherzukommen. Von Griechenland abgesehen, wird sich die Untersuchung auf umfangreiche Akten stützen können. Fast alle Unterlagen von EZB, EUK und IWF zu den Verhandlungen sind öffentlich zugänglich, nur die Protokolle geheimer Beratungen im Exekutivrat liegen sechs Jahre unter Verschluss. Um herauszufinden, welche Strategien die Nehmerländer bei der Kreditvergabe wählten, wird das Team neben dem Aktenstudium auch Interviews mit den Entscheidern auf allen Seiten führen.

Abgeschlossene Prozesse erleichtern den Wissenschaftlern diese Arbeit. Denn sowohl Politiker des Nehmerlandes als auch hochrangige Vertreter der Troika seien dann wesentlich offener, wenn sie nach ihren Strategien gefragt würden. Im Falle Griechenlands dürfte das anders sein. Dessen Ministerpräsident Alexis Tsipras und sein Finanzminister Yanis Varoufakis werden derzeit wohl kaum einem deutschen Forschungsteam ihre Strategien verraten, ebenso wenig wie EZB, EUK und IWF verraten, auf welchem Weg sie die neue griechische Regierung zum Einlenken bewegen wollen.

Dass Forschung im Verhandlungsprozess schwierig ist, lernte Susanne Lütz bereits in einer Vorstudie. Damals lief das Kreditprogramm für Portugal noch. Auskünfte über Strategien wurden ihr deshalb schlicht verweigert. Aus Furcht, dass deren Veröffentlichung den Zins für portugiesische Staatsanleihen hätte verändern können. „Da wurde eindeutig überschätzt, wie schnell ein Wissenschaftler seine Forschungen abschließt und veröffentlicht“, sagt Susanne Lütz heute, leicht amüsiert. Und doch zeigt das Beispiel Portugal, wie heikel die wissenschaftliche Untersuchung solcher Verhandlungsprozesse sein kann. Doch was kann ein Land tun, um Geld zu bekommen oder Auflagen zu lockern? Und: gibt es zu diesem uralten Problem nicht längst bändeweise Forschungsergebnisse?

Die Antwort laute „ja und nein“, sagt Susanne Lütz. Natürlich sei schon viel zu Verhandlungsstrategien geforscht worden, doch fast immer in einem anderen Umfeld, nämlich innerhalb eines deutlichen Machtgefälles. Meist seien es Entwicklungsländer gewesen, die sich vom Internationalen Währungsfonds Geld geliehen und sich mit dessen Auflagen auseinandergesetzt hätten. Auf Europa lassen sich die Forschungsergebnisse nach Ansicht der Wissenschaftlerin gleich aus mehreren Gründen nicht übertragen.

In Entwicklungsländern seien demokratische Strukturen oft nicht sehr ausgeprägt, sodass die Auflagen von den dortigen Regierungen ohne allzu große Widerstände umgesetzt werden könnten. Mit der aktuellen Euro-Finanzkrise jedoch sei man erstmals in der Situation, dass demokratisch verfasste Länder betroffen sind, in denen ein solches „Durchregieren“ von oben nach unten keine Option ist. Und die noch dazu aufgrund der Gemeinschaftswährung eng miteinander verflochten sind. Nur Lettland war zum Zeitpunkt der Kreditverhandlungen noch nicht in der Gemeinschaftswährung.

Der Euro- Austritt eines Landes sei in den Europäischen Verträgen zum einen gar nicht vorgesehen, zum anderen hätte er einen rapiden Ansehensverlust für die EU und die Gemeinschaftswährung zur Folge, sagt Lütz. Die anderen Länder befürchteten einen „Ansteckungseffekt“. Zudem handelte es sich bei den Kreditgebern häufig um Banken anderer europäischer Staaten – im Falle Lettlands schwedische, im Falle Griechenlands deutsche und französische –, die bei einer Staatspleite ernste Probleme bekommen hätten. In der Finanzkrise standen viele dieser Banken am Rande des Ruins. Hätten sie auf die Rückzahlung der Kredite aus den Nehmerländern verzichten müssen, wäre das eine ernste Bedrohung für das Bankensystem dieser Länder gewesen.

Hier kommen nun die möglichen Strategien der Nehmerländer ins Spiel. Und hier zeigt sich auch, warum Susanne Lütz mit ihrem Forschungsprojekt Neuland betritt: Die Ausgangslage ist eine ganz andere als bei früheren Kreditprogrammen. Die Nehmerländer konnten damals darauf setzen, dass man sie um fast jeden Preis retten würde, denn andernfalls hätte ganz Europa ein Flächenbrand gedroht. Die Strategie hieß schlicht: Wenn ihr uns nicht helft, geht ihr mit uns unter.

Das zeige einerseits die Stärke der EU, aber andererseits auch ihre Schwäche, sagt die Wissenschaftlerin: Wenn ein Land zu kippen drohe, könne es einen Domino- Effekt geben. Nachdem sich die deutschen und französischen Banken mittlerweile von der Finanzkrise erholt hätten, wirke daher die Drohung Griechenlands mit den Folgen eines Euro-Austritts auch nicht mehr so stark. Er wäre zwar noch immer problematisch, hätte aber geringere Auswirkungen auf diese beiden größten Volkswirtschaften der EU.

Doch es gibt noch andere Strategien, weiß Susanne Lütz aus ihrer Vorstudie. So ist bereits bekannt, dass es hilfreich sein kann, bei mehreren Geldgebern Zwietracht in deren Koalition zu tragen. Auch wenn die Troika stets vereint auftrat, so war sie hinter den Kulissen keinesfalls immer einer Meinung. Der IWF etwa schlug vor, zur Lösung der lettischen Probleme das Land in den Euro aufzunehmen, obwohl es noch nicht die nötigen Stabilitätskriterien erfüllte. Die EU-Kommission als Hüterin dieser Kriterien konnte indes eine Ausnahme unmöglich zulassen. Sofort hätten andere Beitrittskandidaten dasselbe Recht eingefordert.

Krisen stärken die Parteien am linken und am rechten Rand

In den demokratischen, europäischen Staaten seien auch noch andere Optionen für die Kreditnehmer denkbar, sagt Susanne Lütz: „Da wäre zum Beispiel die Strategie der gebundenen Hände.“ Demokratien seien vom Wähler abhängig, und sie könnten jederzeit darauf verweisen, dass zu strenge Auflagen zu großen sozialen Einschnitten und in der Folge zu einem Regierungswechsel führen könnten. Krisen machten insbesondere die extremen Parteien am linken und rechten Flügel stark, und diese könnten schwierigere Verhandlungspartner für die Geldgeber sein als eine sozial- oder christdemokratische Regierung.

Aber in einer funktionierenden Demokratie gibt es noch andere Akteure: So stufte das portugiesische Verfassungsgericht etwa Teile des zwischen Regierung und Troika vereinbarten Rettungsplanes als verfassungswidrig ein. Umgekehrt eröffnen sich hier auch Optionen für die Geldgeber: Durch gezieltes Verbünden mit bestimmten Kräften im Land – Parteien, Institutionen, Organisationen – können sie für ein Klima sorgen, in dem die Sparauflagen und Kreditkonditionen eher akzeptiert werden. Drei Jahre lang werden Susanne Lütz, ihre wissenschaftlichen Mitarbeiter Sebastian Schneider und Sven Hilgers sowie zwei studentische Mitarbeiter diese Strategien und ihre Erfolge und Misserfolge erforschen.

Auch der Zeitpunkt, an dem eine solche Strategie angewandt wird, soll untersucht werden. Denn was zu Beginn der Verhandlungen vielleicht hilfreich war, kann in einem späteren Verhandlungsstadium völlig nutzlos sein. Und umgekehrt. Neben viel Arbeit am Schreib tisch – dem Sichten offizieller Akten und ökonomischer Daten, der Verhandlungsprotokolle und der verfügbaren Literatur – warten auf die Forscher viele Reisen, um ihre Gesprächspartner zu befragen. Diese Interviews werden dann transkribiert, verschlagwortet und ausgewertet. Außer zwei großen Konferenzen sollen am Ende mindestens zwei Doktorarbeiten und wissenschaftliche Publikationen zum Thema stehen. Susanne Lütz plant zudem ein Buch über die Strategien der Nehmerländer in der Eurokrise.

Wenn nun wegen der Gemeinschaftswährung alle Euro- Staaten in einem Boot sitzen, ist der Euro nicht nur eine große Chance, sondern im Krisenfall auch ein großes Risiko? Kann jedes kleine Land den Staatenbund erpressen, wenn es droht, bankrott zu gehen? Susanne Lütz zögert bei dieser Frage keine Sekunde: „Die Krise hat gezeigt, wer den Euro will, muss bereit sein, umzuverteilen. Die Wirtschaften im Euroraum sind sehr verschieden. Für eine stabile Währung ist deshalb mehr Transfer von den Reichen zu den Armen nötig. Das mussten vor allem jene Länder lernen, die vom Euro besonders profitieren, wie der Exportweltmeister Deutschland“, sagt sie.

Kann die Europäische Zentralbank zukünftige Krisen verhindern?

Die Europäische Zentralbank sei das dafür zuständige Organ, und sie habe durch die Euro-Krise deutlich an Einfluss gewonnen. Durch die Krise gebe es nun zweifelsohne mehr Instrumente fürs Krisenmanagement im Bankensektor. Die EZB sei daher ein „eindeutiger Krisengewinnler“, sagt Lütz. Sie habe ihr Aufgabenspektrum stark erweitert und nehme nun auch systembedingte Risiken stärker in den Blick. Vorher habe die EZB nur darauf geachtet, ob eine Bank Risiken wie faule Kredite im eigenen Portfolio gehalten habe. Jetzt analysiere sie auch, was die Risiken einer Bank für andere Märkte oder gar die gesamte Ökonomie Europas bedeuteten. Auf die Frage, ob die neuen Instrumente der EZB ausreichen, künftige Krisen zu verhindern, zögert die Forscherin einen Moment. Sind die Finanzmärkte jetzt besser reguliert, sind neue Krisen weniger wahrscheinlich?

Die Mechanismen seien neu, ob sie auch besser seien, müsse sich noch erweisen, sagt Susanne Lütz schließlich. Wer die Bankenregulierung seit den 1970er Jahren verfolge, erkenne ein Muster: Wann immer Banken Schlupflöcher im Netz der Bankenaufsicht gefun den hätten und es dadurch zu kleineren oder größeren Krisen kam, seien diese erst im Nachhinein gestopft worden. „Es galt das Mantra, es darf nicht zu teuer für die Banken werden, damit die Wettbewerbsfähigkeit erhalten bleibt“. Schließlich seien starke Banken für die gesamte Wirtschaft eines Landes entscheidend.

Die Bankenregulierung ist nach Ansicht der Wissenschaftlerin damit ein Sonderfall gewesen, den man in anderen Bereichen nie akzeptiert hätte: Bei der Lebensmittel-, Medikamenten- oder Umweltsicherheit habe immer das Vorsorgeprinzip gegolten: Solange nicht alle Risiken bekannt sind, wird ein Produkt nicht zugelassen. Möglicherweise habe die Krise die Regierungen gelehrt, dass diese Vorsorge auch bei den Banken greifen müsse. Erste Anzeichen dafür gebe es, konstatiert Lütz. Banken dürfen keine Töchter ohne Eigenkapital mehr haben, die Eigenkapitalquote der Banken wurde deutlich erhöht, über Stresstests wird die Einhaltung dieser Regeln überwacht.

Weil die Krise auf dem US-Bankenmarkt mit der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers ausbrach, gelten dort jetzt sogar noch strengere Regeln – in einem Land, das bis dahin eine wesentlich lockerere Bankenregulierung hatte als die meisten europäischen Staaten. Dennoch kann Susanne Lütz nicht ausschließen, dass schon bald die nächste Krise droht: „Es ist ja denkbar, dass es Ursachen gibt, die noch niemand kennt, dass sich Banken neue Schlupflöcher suchen, die wieder ein Risiko darstellen“. Ein Umdenken habe in jedem Fall stattgefunden, nicht nur in Europa, auch in den USA. Dennoch bleibe die Bankenregulierung ein sehr unübersichtliches Feld.

In den USA und Europa hat ein Umdenken stattgefunden

Auch wenn heute vieles besser, stärker oder sogar zum ersten Mal überhaupt reglementiert sei, werde die Regulierung nie alle Segmente der Banken erfassen können. Wenn es etwa um neue Finanzprodukte mit hoher Rendite und hohem Risiko gehe, hätten die Banker bislang noch immer eine große Kreativität walten lassen, sagt Susanne Lütz. Am Ende ihres Forschungsprojekts wird sie daher vielleicht auch sagen können, welche Maßnahmen für mehr Stabilität sorgen. Und mit welcher Strategie ein unterlegener Partner am wahrscheinlichsten zu Geld kommt. Sei es nun Taschengeld, Gehalt, oder ein Kredit von der Troika.

Die Expertin

Die Expertin

Prof. Dr. Susanne Lütz
Susanne Lütz ist Professorin für Internationale Politische Ökonomie und unter anderem auch Mitglied des Fachkollegiums 111 „Sozialwissenschaften“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie Mitherausgeberin der Zeitschrift „Der moderne Staat“. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich vor allem mit der Finanzkrise und der Kreditvergabe in der Eurozone, der Regulierung von Finanzmärkten und geistiger Eigentumsrechte – und dem Wandel internationaler Organisationen.

Kontakt
Freie Universität Berlin
Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft
E-Mail: susanne.luetz@fu-berlin.de