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Viele Mythen ranken sich um Europa und seine Entstehungsgeschichte

Europas Geist wurzelt in der Antike, die Ideen von Freiheit und Verantwortung des Einzelnen finden sich bereits in der griechischen Philosophie. Doch wie antik ist Europa? Und wie hat sich der Mythos im Laufe der Jahrhunderte gewandelt?

11.06.2015

Es ist der 6. März 2014, Akropolis-Museum in Athen. „Efcharistó“, sagt Bundespräsident Joachim Gauck: Danke. „Herzlichen Dank für die Einladung, an diesem so besonderen Ort sprechen zu dürfen.“ Es ist sein erster Besuch als deutsches Staatsoberhaupt in der hellenischen Republik. Gauck steht im Museum am Fuß der wohl bekanntesten Stadtfestung des antiken Griechenlands und redet über Erbe und Zukunft Europas. Er preist Athen als Ursprungsort der Demokratie und Wurzel der Zivilisation, spricht von Pythagoras, Platon und Sokrates, fragt, was ein Hölderlin wäre ohne die geistige Heimat Griechenland oder die Architektur in Berlin-Mitte ohne hellenische Anleihen. „Das sind mehr als nur historische Zitate“, sagt er: „Es sind Beweise einer fortdauernden Verbindung über Tausende von Kilometern und Tausende von Jahren.“

Viele Mythen ranken sich um Europa und seine Entstehungsgeschichte

Viele Mythen ranken sich um Europa und seine Entstehungsgeschichte
Bildquelle: Wikipedia

Wenn von Europa gesprochen wird und seiner Einheit, greifen Politiker und Redenschreiber, Wirtschaftsbosse und Gewerkschafter immer wieder gern zurück auf den Mythos, der unseren Kontinent umgibt. Da ist von „einem großen Ensemble zivilisatorischer Werte“ die Rede (Václav Havel), vom „Europa einer Schicksalsgemeinschaft“ und vom „europäischen Zivilisationsprozess“ – ewa in der Charta der Europäischen Identität.

Doch was macht diesen Mythos aus? Woher stammt das Selbstverständnis, Europäer zu sein? Und was ist der Geist dieser Idee eines vereinigten Kontinents? Die mythologische Sagengestalt Europa jedenfalls war eine Asiatin: eine Tochter des phönizischen Königs Agenor und der Telephassa, die an der Mittelmeerküste des heutigen Libanons lebte. Ausgerechnet der Schwerenöter und Götterkönig Zeus verliebte sich in die schöne Frau, fürchtete jedoch den Zorn seiner Göttergattin Hera und schmiedete deshalb eine List: Sein Bote Hermes sollte die Königstochter zu einer Kuhherde führen, unter die sich der Donnergott selbst in Gestalt eines prächtigen Stieres gemischt hatte. Europa war so beeindruckt von dem schönen Tier, dass sie sich von ihm entführen und auf seinem Rücken nach Kreta bringen ließ. Dort angelangt, so der Mythos, zeugten Zeus und Europa drei Kinder, darunter Minos, der fortan Herrscher der Insel sein sollte. Seine Mutter dagegen sollte dem gesamten Erdteil den Namen geben, zu dem die Insel heute gehört.

„Für die Griechen war Kreta jedoch ein Teil Asiens“, sagt Professor Ernst Baltrusch, der am Friedrich- Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin Alte Geschichte lehrt. „Insofern hat der Mythos Europa mit unserer Vorstellung vom Kontinent Europa überhaupt nichts zu tun.“ Überhaupt relativiert der Althistoriker viele überkommene Vorstellungen von den antiken Wurzeln der europäischen Idee.

Athen als Hort der Demokratie? „Eher nicht, denn die Vorstellung unserer repräsentativen, parlamentarischen Demokratie gründet mehr auf idealisierten Bildern der römischen Republik, die zu Zeiten der Aufklärung und des frühen Parlamentarismus im 19. Jahrhundert aufkamen. Eine direkte Linie vom alten Athen zum modernen Europa gibt es nicht.“ Und die europäische Identität? „Athener, Spartaner und Korinther verstanden sich als Griechen, nicht als Europäer“, sagt Baltrusch. „Die Römer hatten ihr Imperium Romanum im Blick – das auch Afrika und den Nahen Osten umfasste.“

Aber Karl der Große! Nein, auch hier rückt der Wissenschaftler das Bild zurecht: „Der verstand sich als Nachfolger der römischen Kaiser und Beschützer der universalen Kirche.“ Und dennoch beruft sich das moderne Europa immer wieder auf Traditionen und Vorbilder aus allen Epochen der Geschichte. Was also macht Europa aus? Und welchen Anteil haben die geschichtlichen Entwicklungen an unseren heutigen Vorstellungen von Staat, Gesellschaft und Miteinander?

Für die alten Griechen begann Europa erst in Bulgarien

Für die Griechen war Europa ein Erdteil, den Herodot in seinen „Historien“ beschreibt. Für ihn begann Europa außerhalb des griechischen Einflussgebietes im Westen, dort, wo die Barbaren lebten und heute Bulgarien liegt. Im Osten und Süden dagegen erstreckte sich Asien vom Reich der Perser bis zum Nil, und vom Nil bis zum Atlasgebirge in Marokko war Afrika. Was die griechischen Gebiete tatsächlich von den Siedlungsräumen anderer Völker unterschied, waren die kleinräumigen politischen Strukturen: Die Polis als politischer Raum, in dem die Bürger – etwa in Athen – selbst über ihre gesellschaftlichen Belange diskutierten und abstimmten.

Der Einfluss der Regionen ist auch im heutigen Europa noch stark, besonders dort, wo sich Staaten föderale Verfassungen gegeben haben. Allerdings durften im alten Athen nur freie Männer abstimmen; 80 bis 85 Prozent der Bewohner waren Sklaven, Frauen und Kinder und deshalb von der politischen Teilhabe ausgeschlossen. Die Kleinräumigkeit Europas hat sich bis heute erhalten.

Doch was die Bürger der Stadt auf der Agora unterhalb der Akropolis in Heeres-, Volks- und Gerichtsversammlungen diskutierten, betraf selten das, was heute Innen-, Wirtschafts-, Sozial- oder Bildungspolitik ausmacht. Es ging hier meist um Krieg und Frieden, um Militärbündnisse und Verteidigungsstrategien. Anders als in modernen demokratischen Systemen musste die Politik der Griechen keinen Ausgleich finden zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, es gab keine ausdifferenzierte Verwaltung, die das Alltagsgeschäft der Politik hätte übernehmen können.

Unter Althistorikern gilt deshalb der Unterschied zwischen der athenischen Demokratie und den heutigen Formen für unüberbrückbar. „Die repräsentative Form unserer modernen Demokratien ist ideengeschichtlich eher mit den Vorstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts über die Römische Republik verknüpft“, bestätigt Ernst Baltrusch. So prägten die Begriffe von Freiheit und Gleichheit die Verfassungsväter im amerikanischen Unabhängigkeitskampf und in der Französischen Revolution. „Der Sturz der Könige, der Kampf der Republik gegen die verhasste Monarchie, die Verschwörung gegen Cäsar: Das waren die ideale Washingtons und Lafayettes.“

Verfolgung, statt Einheit in Vielfalt

Doch auch Rom taugt kaum dazu, den Mythos Europa zu begründen. Zu sehr waren die Regeln der res publica von den Adelsgeschlechtern der Stadt geprägt. Ihre Identität war geprägt vom Imperium Romanum, einem auf die Hauptstadt des Reiches bezogenen Rechtsraum, der im Laufe der Jahrhunderte in einem langen Prozess wuchs: Die Römer waren nämlich sehr erfolgreich darin, in den von ihnen eroberten Gebieten kulturelle und gesellschaftliche Eigenheiten der Bevölkerung zunächst zu tolerieren, nützliche Gebräuche aus anderen Ländern zu adaptieren und die eigene Idee von der Vormachtstellung Roms – die Rom-Idee – auf diese Weise behutsam in die Provinzen zu tragen.

„Dies wurde insgesamt im Westen des Reiches stärker forciert, da die römische Kultur mit ihren Tempeln, Marktplätzen und Bädern dort unbekannt war, während es im Osten des Reiches aufgrund der hellenistischen Einflüsse solche Einrichtungen bereits gab“, sagt Baltrusch. Fast könnte man von einer Einheit in Vielfalt sprechen, die Europa auch heute noch prägt. „Aber Strömungen, die sich nicht integrieren ließen, insbesondere monotheistische Religionen wie das Christentum und das Judentum, wurden von den Römern gnadenlos verfolgt.“ Der Anspruch der Römer war nicht eine Herrschaft über Europa oder den Mittelmeerraum. Ihr Anspruch war die Herrschaft über die damals bekannte Welt.

Die Idee hinter der „glücklichsten Periode der Menschheitsgeschichte“

Spätestens mit der Kaiserzeit verband die Rom-Idee das Imperium zu einer Einheit. Der britische Historiker Edward Gibbon bezeichnete im 18. Jahrhundert das zweite nachchristliche Jahrhundert als beste und glücklichste Periode der Menschheitsgeschichte. „Die Zeit der römischen Kaiser von Augustus bis zu Marc Aurel ist geprägt von der Idee des Friedens, des wirtschaftlichen Wohlstandes und des kulturellen Pluralismus“, sagt Althistoriker Baltrusch.

Die Sicherheit im Inneren beförderte die Wirtschaft, und der Handel blühte auf, denn die Straßen des Imperiums und freier Warenverkehr ohne Zölle verbanden die Provinzen vom heutigen Großbritannien bis Ägypten und von Spanien über die Krim bis Armenien. Der Wohlstand ließ Raum für soziale Fürsorge entstehen: Abgesehen von den Sklaven litt selten ein Bewohner des Römischen Reichs Hunger in diesen Jahren. Kam es in einem Teil des Imperiums zu Ernteausfällen, halfen andere Regionen mit Lebensmitteln aus.

Auch ein einheitlicher Rechtsraum – kodifiziert im 6. Jahrhundert unter dem oströmischen Kaiser Justinian im corpus iuris civilis – stiftete Identität: Er dokumentierte eine Ordnung, die im gesamten Imperium Romanum galt und die das Lateinische als Reichssprache etablierte. „Einzig im östlichen Teil des römischen Reiches trat daneben Griechisch als zweite Amtssprache“, sagt Ernst Baltrusch. „Die hellenistischen Kultureinflüsse dort wurden von den Römern schon bei der Eroberung der Gebiete weitergetragen und adaptiert. Insgesamt kann man beim Imperium Romanum von einer griechisch-römischen Kultur sprechen.“

Als Konstantin der Große am 11. Mai 330 Byzanz unter dem neuen Namen Konstantinopel zur neuen Hauptstadt des Imperiums erklärte und mit seinem Hof Residenz am Bosporus nahm, blieb die Idee Rom bestehen. Die Hauptstadt im Osten galt schnell als „Neues Rom“ – und während im Westen von 375 n. Chr. an die Völkerwanderung der germanischen Stämme den Druck auf die Außengrenzen des nun geteilten Reiches erhöhte, erblühte Konstantinopel zum neuen geistigen Zentrum des Mittelmeerraums.Das Christentum, im 4. Jahrhundert noch verfolgt, stieg spätestens 380 zur Staatsreligion auf und brachte neue Impulse in das Denken und die Kultur der Römer. Während man zuvor jahrhundertelang allen Religionen gegenüber sehr tolerant aufgetreten war, solange sie die Vormachtstellung Roms anerkannten, wurde die Religionsfreiheit nun eingeengt.

Das Christentum wird Staatsreligion, die Religionsfreiheit eingeschränkt

Andererseits spiegelt das überlieferte Jesus-Wort „So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gott es ist!“ eine Grundhaltung der neuen christlichen Religion, die auch schon im römisch-griechischen Kulturkreis breiten Zuspruch fand. „Während in den orientalischen Gesellschaften alles Handeln auf einen Gott hin gedacht wurde, der gleichzeitig oft in der Person des Königs verkörpert war, etabliert sich in der christlichen Gesellschaft die Idee einer eigenen politischen Ordnung, die neben der göttlichen Ordnung besteht“, sagt Baltrusch. Politik wird also vom Menschen gemacht, nicht von Gott.

Mit dem Beginn der Völkerwanderung 375 n. Chr. bestimmten zunehmend germanische Einflüsse das Gesellschaftsbild im westlichen Römischen Reich. Sklaverei kannten die Menschen aus dem Norden nicht, Repräsentation von Politik und Hofordnung spielten eine stärkere Rolle als in den antiken Gesellschaften des Mittelmeerraums. „Auch die Rolle der Frau war in den germanischen Gesellschaften sicher bedeutender als in der römischen. Hinzu kam der Freiheitsgedanke, den das Germanentum nach Europa brachte“, sagt Baltrusch. Gleichzeitig fiel es den neuen Herrschern schwer, das an keine kirchliche Lehre glaubende, antike Hochkulturerbe aufrechtzuerhalten.

Es wurde modifiziert, angepasst und vereinfacht. Klöster wurden zu den Hütern des überlieferten Wissens – vieles jedoch ging verloren. Mit Karl dem Großen gelang es einem germanischen Fürsten, große Teile des Weströmischen Reiches wieder in einem Herrschaftsraum zu vereinen. Zwar pries ihn ein anonymer Dichter als pater totius Europae – als Vater ganz Europas; doch ist mit dem Begriff eher eine Art von christlicher Solidargemeinschaft umschrieben, die sich zudem auf den lateinischen Westen des Kontinents beschränkte. Als sich Karl im Jahr 800 n. Chr. in Rom zum Kaiser krönen ließ, war er denn auch nicht in erster Linie „Beschützer Europas“, sondern defensor ecclesiae – Verteidiger der Kirche. Zwar trugen er und seine Nachfolger dazu bei, den europäischen Kontinent durch die Konservierung des Lateinischen als Sprache der Wissenschaft und Bildung weiter zu einen; doch sie konnten nicht verhindern, dass der europäische Raum in viele kleine Herrschaftsgebiete zerfiel.

Verbindendes Glied zwischen den Völkern blieb die Religion. Pilger trugen langfristig auch zu einer europäischen Identität bei: Sie reisten teils in die entlegensten Winkel des Kontinents – nach Santiago de Compostela etwa oder Canterbury –, oder sie kamen von den Randzonen des geografischen Europas, von Ungarn, Süditalien und der Ostsee nach Rom, Köln, Tours oder Aachen. Dabei erlebten sie eine Gemeinschaft als Europäer und Christen, verbunden durch den entbehrungsreichen Weg und die Gastfreundschaft.

Die eigentliche Entdeckung einer europäischen Identität fiel dagegen eng mit dem Untergang Konstantinopels zusammen: Am 29. Mai 1453 überwanden die Osmanen bei Sonnenaufgang die Mauern der Stadt und plünderten das „Neue Rom“. Sie wurden auch für den lateinischen Westen zur Bedrohung. Der Schock saß ebenso tief wie die Erleichterung, dass es „nur“ die orthodoxen Glaubensbrüder getroffen hatte, ebenso die Angst, Sultan Mehmed II. und seine Truppen könnten über den Balkan noch weiter nach Mitteleuropa vordrängen. Der Fall Konstantinopels löste so auch eine Debatte unter den Intellektuellen der christlichen Welt aus über die Identität des christlichen Europas, eines Europas in Waffen, das sich gegen die Türken und den Islam richtete, die man als aggressive Angreifer auf die christlich-friedliche Welt empfand. Europa wurde so zum Begriff der Abgrenzung gegenüber einem als brutal, gottlos und unzivilisiert verstandenen, islamischen Reich. Fortan prägte die „Türkengefahr“ das Bewusstsein der Europäer.

Nach dem Dreißigjährigen Krieg erholt sich der Kontinent von Kriegen und Kämpfen

Der Europabegriff blieb bis zur Aufklärung christlich geprägt, auch wenn die westliche Christenheit zu Beginn des 16. Jahrhunderts zerfiel. Luther bekämpfte den Ablasshandel Roms, Zwingli bezweifelte in der Schweiz die Lehre der Mutter Kirche, in London erklärte sich Heinrich VIII. unabhängig vom Papst. Die Konfessionen wurden zu einem Spielball der Macht, Krieg wütete in Europa, Söldner brandschatzten quer durch die deutschen Lande. Erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 erholte sich der Kontinent von den Kämpfen um den wahren Glauben, und die Philosophie der Aufklärung brach sich Bahn.

Um 1700 entstand im Diskurs erstmals die Identität eines kulturellen Europas, losgelöst von religiösen Vorstellungen: Kunst, Wissenschaft, Reichtum, Literatur und Kriegskunst galten der Aufklärung als europäische Errungenschaften und standen in Abgrenzung zu den Attributen der anderen Kontinente. Europa galt als Herrin der Welt, Asien dagegen als Kontinent des Islam. Afrika als die alte Kornkammer Roms war Zeichen der Fruchtbarkeit, der neu entdeckte Kontinent Amerika galt als wild und gefährlich. Erstmals wurde die Geschichte Europas als zusammenhängende Entwicklung beschrieben, um Europas Überlegenheit im Vergleich mit anderen Kulturen zu beschreiben.

Doch die Französische Revolution und ihre Folgen für Gesellschaft, Staat und Wirtschaft verstärkten zunächst das Trennende: Geschichte wurde als Wettlauf der Nationen betrachtet, Kriege als Mittel der Politik, das „lange 19. Jahrhundert“ war geprägt von Aufrüstung, Säbelrasseln und Stellvertreterkriegen und mündete in die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts: den Ersten Weltkrieg, dem bald ein zweiter folgte. So ist es nicht verwunderlich, dass die moderne Idee von einem geeinten Europa nach den beiden großen Kriegen entstand, die mehr als 100 Millionen Menschenleben kosteten.

Nie wieder Krieg ist der Gründungsmythos der Europäischen Union

„Nie wieder Krieg! Das ist sicher der Gründungsmythos der Europäischen Union“, sagt Tanja Börzel, Professorin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft und Leiterin der Arbeitsstelle Europäische Integration: „Ihre Gründungsväter Adenauer, de Gaulle und De Gasperi wollten dauerhaften Frieden für Europa.“ So waren es die kriegswichtigen Rohstoffe Kohle und Stahl, die als Erstes der Aufsicht einer neu geschaffenen supranationalen Gemeinschaft unterstellt wurden, später kam die Atomkraft hinzu, eine gemeinsame Verteidigungspolitik scheiterte an den Vorbehalten Frankreichs. „Dennoch ist die deutsch-französische Freundschaft sicher die treibende Kraft hinter der europäischen Idee“, sagt Börzel. Auch wenn die Erinnerung an Elend und Leid mit dem Tod von Angehörigen der Kriegsgeneration nach und nach vergeht: Der Mythos von Friede, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit aus den Gründerjahren der Europäischen Union besteht bis heute.

Doch auch er ist bedroht. „Wie gefährdet der Frieden auch heute noch ist in Europa, zeigen die Ereignisse in der Ukraine“, sagt Tanja Börzel: „Die Freiheit wird direkt durch einen schwer zu fassenden, dschihadistischen Terrorismus bedroht – und indirekt durch dessen Bekämpfung, indem Freiheitsrechte aus Gründen der Sicherheit und Kontrolle beschnitten werden.“ Und auch von allgemeinem Wohlstand könne angesichts einer Jugendarbeitslosenquote von mehr als 50 Prozent in einigen südeuropäischen Staaten mittlerweile kaum noch gesprochen werden. Diese Entwicklung, ist die Politikwissenschaftlerin überzeugt, „macht den Gründungsmythos der Europäischen Union aktueller denn je“.


Der Experte

Prof. Dr. Ernst Baltrusch
Ernst Baltrusch ist seit 1995 Professor für Alte Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität, und er forscht im Arbeitsbereich „Historical Spaces“ des Exzellenzclusters Topoi. In seiner wissenschaftlichen Arbeit konzentriert er sich unter anderem auf die Geschichte des Judentums in der Antike, das Völkerrecht in der Antike, die Geschichte Spartas und der Römischen Republik – und steht, wie so oft, fundiert als Experte Rede und Antwort. Aktuell arbeitet er an einer Geschichte der römischen Kaiserzeit.


Kontakt
Freie Universität Berlin
Friedrich-Meinecke-Institut
E-Mail: balt@zedat.fu-berlin.de