"Wir haben zu wenig gewollt!"
Der Historiker Paul Nolte und der Zeitzeuge Ekkehart Krippendorff über Beweggründe, politische Kultur und die Frage, was von den 68ern bleibt.
08.10.2014
fundiert: Herr Professor Krippendorff, Herr Professor Nolte, wie würden Sie einem politisch interessierten Jugendlichen heute die 68er beschreiben?
Krippendorff: Es war eine enorme Aufbruchsstimmung, kurz gesagt. In der Luft lag diese Erregung, jeden Tag passierte etwas Neues. Hier eine Vollversammlung, dort ein Vortrag, da ein Institut besetzt, ein Streik … Und das Zentrum der politischen Aktivitäten damals waren die Freie Universität und Berlin. Es war eine aufregende Zeit für alle.
Nolte: Ja, Aufbruchsstimmung umreißt es treffend. Sie begann schon 1964, hier an der Freien Universität, aber auch in Berkeley: Die Studentenbewegung speiste sich unter anderem aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Diese besondere Stimmung war hierzulande nicht erst 1968 plötzlich da, auch wenn das Jahr in der Zeitgeschichtsschreibung zu einer Art Chiffre für das ganze Jahrzehnt geworden ist.
fundiert: Gibt es Aspekte, die kritisch zu sehen sind?
Nolte: Ja, die Akteure hatten teils merkwürdige Vorstellungen davon, wohin dieser Aufbruch führen sollte. Es ist erstaunlich und für viele aus meiner Generation irritierend, warum aus dieser Stimmung heraus gleich eine sozialistische Revolution gemacht werden sollte. Oder warum die Staatsordnung der Bundesrepublik in Frage gestellt wurde, statt sich über das neue, liberale Gemeinwesen zu freuen. Man hätte das neue Grundgesetz auch ernst nehmen können, anstatt es wieder über Bord werfen zu wollen – zu Gunsten eines von Hô Chí Minh oder Ché Guevara inspirierten Staates.
Krippendorff: In diesem von Ihnen beschriebenen Sinne waren die 68er keine politische Bewegung, wenn Sie so wollen. Denn sie hatte keine derartige politische Programmatik. Sie versuchte aber, sich eine zu geben und Orientierungen zu finden. Angesichts des Vietnamkriegs brauchte man keine großen politischen Theorien, um zu wissen: Es ist ein politisches Verbrechen, dieses Volk kaputt zu bomben. In dieser Zeit wurde schließlich erst „entdeckt“, dass es auch in Deutschland eine Arbeiterbewegung und eine Rätebewegung gegeben hat. Das musste man sich mühsam zusammenlesen. Daraus hat sich dann eine gewisse sozialistische Haltung entwickelt – als Alternative zu diesem Raubkapitalismus, in dem wir aufgewachsen sind.
fundiert: Herr Krippendorff, gab es neben der Bürgerrechtsbewegung und dem Vietnamkrieg noch andere Auslöser?
Krippendorff: Die Protestbewegung hatte auch mit der Gründung der Freien Universität zu tun. Diese war nicht nur eine Folge des Kalten Krieges, sondern auch ein Versuch, die alte Ordinarien-Universität mit neuen Formen der Mitbestimmung zu überwinden. Ziel war etwa, dem Allgemeinen Studierenden-Ausschuss, dem AStA, eine kleine Regierungsfunktion zu geben. Angestellte sollten bei Berufungen ein Mitspracherecht erhalten. Die FU war ein Modellfall und in Westdeutschland verrufen, sie wurde zunächst nicht als „vollwertige“ Universität betrachtet. Die Studenten waren hier unter anderem deshalb besonders politisiert, weil US-amerikanische Gelder in die Uni flossen. Hinzu kamen die Teilung der Stadt und die Präsenz von Studenten aus der DDR – Figuren wie Rudi Dutschke kamen von dort. Mein eigener Konflikt kam noch zusätzlich …
fundiert: … Sie meinen das „Krippendorff-Semester“ von 1965 – wie kam es dazu?
Krippendorff: Ich hielt mich von 1960 bis 1963 in den USA auf, das war damals noch eine Besonderheit. Ich bekam dort das Ende der US-Bürgerrechtsbewegung mit und deren Strategien und Taktiken. Das habe ich weitergegeben, als ich 1963 zurückkam. Vor allem im Kuby-Jaspers-Konflikt.
fundiert: Daran erinnern sich heute vermutlich nur noch wenige …
Krippendorff: Der Publizist Erich Kuby sollte im Mai 1965 zu einer politischen Veranstaltung im Audimax eingeladen werden, doch der damalige Rektor Professor Herbert Lüers war dagegen. Der politische Beauftragte des Rektorats, Kurt Sontheimer, hatte neben Kuby den Philosophen Karl Jaspers eingeladen – damals eine große, allen bekannte Figur. Aber an ihm schieden sich die Geister, weil er sich gegen Adenauer und die Atomrüstung der Bundesrepublik aussprach. Lüers wollte daher auch ihn ausladen. Das war eine politische Provokation, heute vielleicht vergleichbar mit einem Redeverbot etwa für Habermas. Das wollte ich nicht hinnehmen. Nach meinen US-Erfahrungen habe ich angeregt, „Sandwich-Men“ einzusetzen.
fundiert: Was muss man sich darunter vorstellen?
Krippendorff: Einige von uns banden sich große Plakate vor den Bauch und auf den Rücken. Damit gingen wir zum Rektorat und protestierten gegen Zensur an der Freien Universität. Das machte natürlich großen Lärm in Berlin. Man empfand es als ein Unding, dass an der Freien Universität – einer Gründung des Westens – derart demonstriert wurde. Daraufhin wurde ich von der Universität gefeuert.
fundiert: Wie würden Sie, Herr Nolte, die Gründe als Historiker umreißen?
Nolte: Die Unruhe an der Freien Universität hatte durchaus mit den besonderen Bedingungen hier und mit der merkwürdigen, eingekapselten Inselsituation West-Berlins zu tun. Aber die Freie Universität war anders als andere Universitäten keine rückständige Ordinarien-Universität. Es war eher so, wie es häufig zu beobachten ist: Protest regt sich da, wo die Menschen schon ein bisschen weiter sind, und nicht da, wo sie ganz zurückhängen.
fundiert: Welche Rolle spielten die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten?
Nolte: Es war ein sehr ambivalentes, facettenreiches Verhältnis. Der Studentenbewegung wurde wegen der Vietnamproteste und gewisser sozialistischer Phantasien und Romantisierereien häufig Anti-Amerikanismus vorgeworfen. Heute gibt es in der Zeitgeschichtsschreibung eher die Tendenz zu sagen: Die 68er waren zwar politisch antiamerikanisch, aber in kultureller Hinsicht haben sie sich doch amerikanisiert, nicht nur durch Rockmusik. Das Verhältnis war auch im Politischen sehr vom Lernen geprägt. Amerika zu kritisieren, hieß immer auch von Amerika zu lernen – und umgekehrt.
Krippendorff: Viele Emigranten kamen aus den USA zurück und wechselten an die Freie Universität, darunter der Jurist und Politologe Ossip Flechtheim und der Politologe Ernst Fraenkel. Sie wurden zurückgeholt, weil man, wie Sie sagten, von Amerika lernen wollte. In puncto Demokratie war Amerika das Vorbild.
fundiert: War man in Deutschland bereit, dem Vorbild nachzueifern?
Krippendorff: Bedingt. Das erste Amerika-Institut, das heutige John-F.-Kennedy-Institut, gehört zum Gründungsmythos der Freien Universität. Ich war dort Assistent, flog aber schnell wieder raus. An den amerikanischen Universitäten war der Autoritarismus überwunden. In Harvard, etwa bei dem großen Soziologen Talcott Parsons, standen die Türen immer offen. Mit beiden Beinen auf dem Tisch – so saß er im Büro, das war alles sehr locker. Hier in Berlin hingegen trug der Assistent von Herrn Fraenkel der Frau Professor die Einkaufstaschen hinterher. So etwas machte ich nicht mit. Diese Struktur ging mir und den Studenten zunehmend gegen den Strich.
fundiert: Herr Nolte, Sie waren 1968 noch im Kindergarten. Haben Ihre Eltern Sie später vor Leuten wie Herrn Krippendorff gewarnt?
Nolte: Ach nein, ich wuchs in einem sehr liberalen Elternhaus auf. Meine Generation, also die Jugend am Ende der 70er Jahre, kann man auch als Spät-68er- Generation sehen. Als Oberstufenschüler fühlten wir uns eine Zeit lang als deren letzte Bannerträger. Von den 68ern hatten wir ein merkwürdig verkorkstes Verhältnis zur Staatsordnung der Bundesrepublik geerbt. Irgendwie glaubten wir an unserem nordrhein-westfälischen Gymnasium, dass man diesem Staat nicht trauen könne und dürfe. Im Streit zwischen Staat und RAF erfuhr diese Gesinnung 1977 einen neuen und letzten Schub; man spricht heute auch vom „roten Jahrzehnt“ seit 1967. Im Grunde reichte es aber bis in die frühen 80er Jahre hinein, als das Wettrüsten und der Nato-Doppelbeschluss die Friedensbewegung beflügelten.
Krippendorff: In diese Zeit der 68er fiel auch die Entdeckung des ganzen Ausmaßes der Verbrechen der Nationalsozialisten, das man bis dahin völlig verschwiegen hatte. Darüber redete man nicht – auch nicht in den Vorlesungen zur Zeitgeschichte, die ich als Student in Tübingen, Freiburg und Berlin gehört hatte.
fundiert: Erst 1985 hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ bezeichnet. Haben die 68er aus ihrer Sicht entscheidend dazu beigetragen, dass die Zeit des Nationalsozialismus aufgearbeitet wurde?
Krippendorff: Die Frage „Wo wart ihr eigentlich im Dritten Reich?“ wurde erst sehr viel später gestellt, weil man in der autoritären Universität groß geworden war. Der Philosoph Martin Heidegger etwa war ein Heiliger bei uns. Seine Vergangenheit wurde nicht weiter hinterfragt. Es gab viele solcher Beispiele.
Nolte: Aber diese Fragen wurden erst in den 80er Jahren konkret. Wir wissen heute, dass jene, die Anfang des 20. Jahrhunderts geboren wurden, also zwischen 1900 und 1910, häufig die radikalsten und ganz besonders fanatischen Nationalsozialisten waren. Das waren zugleich die jungen Akademiker, die sich nach der Weimarer Republik ihre Aufstiegschancen im Dritten Reich erhofften. Nicht zufällig rekrutierten sich aus deren Kindern – den Jahrgängen 1940 bis 1950 – die 68er.
Krippendorff: Wir waren viel zu naiv und haben damals unterschätzt, wie viele Dinge aus dem Dritten Reich sich bis in die Zeit der Bundesrepublik erhalten hatten. Aus heutiger Sicht und nach der Aufarbeitung von Personalakten im Auswärtigen Amt, in der Polizei und der Justiz wissen wir heute, dass sehr viel mehr Nazis wieder in Funktionen gelangten, als von uns angenommen. Wir hatten unseren Zorn ja eigentlich nur an wenigen Figuren festgemacht.
Nolte: Ihnen ist damals auch ein wenig das Unterscheidungsvermögen abhandengekommen. Kollegen, die eigentlich mit Ihnen sympathisierten – Sozialdemokraten wie Richard Löwenthal oder der Historiker Thomas Nipperdey – und die nach ihrem Selbstverständnis Reformer waren, haben Sie mit den Nazis in einen Topf geworfen. Nipperdey ging dann hier über den Campus und musste lesen: „Nipperdey = NPD“. Was hatte das denn noch mit einer seriösen Suche nach nationalsozialistischen Wurzeln an der Universität zu tun?
Krippendorff: Ja, das waren gute, ordentliche Sozialdemokraten. Wir hatten aber das Gefühl, wir werden von denen durch die Zustimmung zur ersten Großen Koalition 1966 verraten. Löwenthal beispielsweise war völlig verunsichert. Er kompensierte das durch eine besonders harte Haltung gegenüber uns Protestlern. Wir haben das aber damals nicht verstanden. Ich würde die Anfeindungen also nicht zu hoch hängen.
Nolte: Jemanden steckbrieflich zu suchen wie Ernst Fraenkel, nur weil er sich nach einer kommunistischen, leninistischen Vergangenheit der sozialdemokratischen Seite zugewandt hat, das ist ja auch nichts, was man heute vorbildlich finden muss. Da ist die deutsche Studentenbewegung, im Vergleich zu anderen Ländern, durchaus über die Stränge geschlagen. In den USA gab es auch einen SDS. Die Abkürzung steht dort aber für „Students for a democratic society“. In Deutschland war es hingegen der „Sozialistische Deutsche Studentenbund“.
fundiert: Eine gewisse Gewaltbereitschaft gehörte zu den 68ern. Bis heute wird den Anhängern der Bewegung vorgeworfen, sich davon nicht deutlich genug distanziert zu haben. Herr Krippendorff, wie sehen Sie das?
Krippendorff: Was die Gewalt anbetrifft, darf man nicht vergessen: Der große politische Hintergrund war Vietnam. Und dort wurde gegen jeden gebombt. Diese Gewalt des Imperialismus war nicht die unsere.
fundiert: Aber auch die Demonstrationen waren ja nicht gerade friedlicher … Krippendorff: Wir haben auch Gewalt auf der Straße erlebt. Die Polizei war mit Knüppeln bewaffnet und hat geprügelt. In Berlin zu demonstrieren, war eine Provokation, die Polizei war den Umgang mit Demonstranten nicht gewohnt. Demonstrationen an sich waren damals noch ein Lernprozess. Sie verliefen bis zum Beginn der 60er stets nach demselben Muster: Die SPD zog vor den Reichstag oder ein Rathaus, wo dann eine Rede gehalten wurde.
fundiert: Und wie haben Sie demonstriert?
Krippendorff: Wir marschierten auf eigene Faust durch die Stadt. Das galt als Unverschämtheit, deshalb wurde die Polizei geschickt. Dagegen haben wir uns gewehrt. Doch es eskalierte, mit – vorsichtig formuliert – problematischen Dimensionen. Bei der berühmt-berüchtigte Schlacht am Tegeler Weg war es natürlich naiver Unsinn zu glauben, gegen die Polizei „gewonnen“ zu haben. Aber daraus haben einige für sich die Konsequenz gezogen: Sie dachten, Kaufhäuser müssten brennen, damit die Leute kapieren, was in Vietnam passiert. Nolte: Ich halte die Gewaltfrage nicht für entscheidend, auch wenn man heute einige Wurzeln der extremen Gewaltbereitschaft – etwa der RAF – in den 68ern sehen kann. Viel entscheidender ist die Frage nach der Haltung zu Rechtsstaat und Institutionen. Sie wurde im Zusammenhang mit den Ausschreitungen nach dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg auch von Jürgen Habermas gestellt. Habermas war damals einer der jungen Linken und gehörte durchaus zu den Professoren, die mit den Studierenden sympathisierten. Die 68er hatten ein sehr eingeschränktes Verständnis davon, was die Sicherheit des institutionellen Kerns von Demokratie betrifft.
Krippendorff: Das war in der Tat eine Schwachstelle der Linken. Nolte: Denn Institutionalismus galt natürlich als „rechts“ …
fundiert: Es gibt heute eine sehr unterschiedliche Bewertung der 68er – wie ist eine solche Urteilsspanne möglich?
Krippendorff: Das ist ja mit fast allen historischen Momenten so: Es gibt 25 verschiedene Interpretationen dazu. Wie gesagt: Damals herrschte diese enorme Aufbruchstimmung. Für mich war die Bundesrepublik nach der 68er-Bewegung auf jeden Fall nicht mehr dieselbe. Manche sprachen sogar von der „Zweiten Gründung der Bundesrepublik“.
fundiert: Würden Sie selbst auch so weit gehen?
Krippendorff: Polemisierend kann man das schon sagen. Die Bezeichnung spiegelt die Breite der Bewegung wider: Wenn man von den 68ern spricht, muss man auch die Kindergartenbewegung einbeziehen, die anti-autoritäre Erziehung, den Feminismus und den Umgang mit Hochschulautoritäten.
Nolte: Viele der Etiketten für die 68er werden immer nur zu Jubiläen rausgeholt. Bei den Jüngeren, und auch in der Zeitgeschichtsforschung, findet man statt einer Polarisierung eher ein ausgeglichenes, fast nüchternes Urteil. Für die Studierenden in meinen Seminaren ist „68“ unendlich weit entfernt. Vieles an den spezifischen Verschärfungen und Verhärtungen – gerade auch der West-Berliner 68er – lässt sich mit der deutsch-deutschen Nachkriegskonstellation und der nationalsozialistischen Vergangenheit erklären.
fundiert: Wurde sie bewältigt?
Nolte: In allgemein-kultureller Hinsicht gab es durch die 68er einen Wandel, der wichtig war und bleiben wird: mehr Liberalität und Gleichheit, weniger Hierarchie und Autorität. Ob er an manchen Stellen auch ohne Rudi Dutschkes erregte Reden eingetreten wäre, ist schwer zu sagen. Denn manche massenkulturellen Bewegungen setzen sich von allein fort. Eine Frauenemanzipation hätte es wahrscheinlich auch ohne die Studentenbewegung gegeben.
Krippendorff: Ich bin ziemlich stolz auf die deutsche Vergangenheitsbewältigung. Es ist beispielsweise sehr positiv, dass in Deutschland die Todesstrafe nicht möglich ist. Oder die Diskussion über Euthanasie. Die deutsche Gesellschaft hat sich da immunisiert und etwas gelernt.
fundiert: Herr Nolte, Sie haben sich mit dem Begriff der Babyboomer-Generation auseinandergesetzt, der sie selbst angehören. Wie unterscheiden sich denn die Lebensentwürfe im Vergleich zu den 68ern?
Nolte: In einer komplizierten Weise. Die Babyboomer mussten mit dem Erbe der 68er umgehen, ohne zu den alten Verhältnissen zurückzukehren – also pragmatische Lösungen erproben. Zum Beispiel in den privaten Lebensverhältnissen, die ein kleiner Teil der 68er sehr radikal-experimentell verändern wollte: Familiengründung hielten sie für etwas Bürgerliches und gründeten stattdessen Kommunen, lösten Familienstrukturen auf. Kann man Kinder haben, und die Frau ist trotzdem erwerbstätig? Darauf hatten die 68er noch keine Antwort. Oder in der Politik: Kann man kritisch sein, ohne gleich „das System“ für ganz falsch zu halten?
fundiert: Welche Folgen hatte das?
Nolte: Die Babyboomer sind darüber in vieler Hinsicht pragmatischer geworden, unideologischer. Das hängt auch mit einem größeren politisch-kulturellen Wandel zusammen, den wir seit den 80er Jahren erlebt haben und der bis heute andauert. Die Eindeutigkeit, mit der sich die 68er auf ein bestimmtes Programm, auf Werte oder Parteien festgelegt hatten, ist für viele in meiner Generation verloren gegangen.
fundiert: Wie sehen Sie das, Herr Krippendorff ?
Krippendorff: Ich bin da etwas optimistischer. Als die Occupy-Bewegung losging, dachte ich, jetzt passiert etwas. Leider hat sich meine Hoffnung nicht erfüllt. Doch eine gewisse Unruhe, im positiven Sinne, ist der Gesellschaft erhalten geblieben: das Wissen, dass man protestieren und gehört werden kann. Dass es die Möglichkeit gibt, eine andere Form von Kapital zu entwickeln. Das ist heute wieder denkbar, sogar mehr als 1968.
fundiert: Sehen Sie Unterschiede zwischen der Babyboomer- Generation und der 68er in Bezug auf materielle Voraussetzungen und auf Sozialisation ganz allgemein – etwa im Verhältnis zu den Eltern?
Nolte: Ja, natürlich. Meine Generation hat Eltern, die in den 30ern geboren sind – also Ihre Generation, Herr Krippendorff. Das sind ja nicht im engeren Sinne die 68er gewesen, sondern eher eine Generation, die man häufig auch als die 45er-Jahrgänge bezeichnet. Bei uns gab es daher viel weniger Spannungen. Inzwischen hat sich das Generationenverhältnis ja noch viel stärker entspannt und abgeschliffen. Unsere Kinder finden kaum noch eine Möglichkeit, zu ihren Eltern auf Distanz zu gehen. Sie unterscheiden sich heute kaum mehr bei der Kleidung.
Krippendorff: Ich kann mit der ganzen Generationendiskussion nicht viel anfangen. Meine Kinder, die 1965 und 1967 geboren sind, haben kein Bedürfnis, sich von mir zu distanzieren. Was für mich eine Generationslinie markiert, ist die Kenntnis oder Nichtkenntnis des Dritten Reiches oder des Krieges. Für diejenigen, die ihn als Kind bewusst miterlebt haben, machen drei, vier Jahre einen großen Unterschied. Was die nachfolgende Generation meiner Enkelkinder anbelangt, frage ich mich, was für eine Welt auf sie zukommen wird. Ich muss daher Dinge wie die Klimadiskussion ernst nehfundiert men. Die Generation unserer Kinder ist da heute politisch stärker engagiert als wir es damals waren.
fundiert: Ist Ihnen das Etikett, ein 68er zu sein, lästig?
Nolte: Er sagt ja, er sei gar kein 68er …
Krippendorff: Ehrlich gesagt langweilt es mich. Aber jetzt, da wir darüber reden, kommt es in mir doch wieder hoch. Ich bin nicht stolz; stolz kann man ja nur auf Errungenes sein. Aber ich bin froh, dass es diese Bewegung in Deutschland und in Europa und sogar darüber hinaus in Amerika gegeben hat. Auch die Rolle, die andere Kulturen für uns gespielt haben und bis heute spielen, macht mich zufrieden. Wenn ich auf der Straße Leute aus der Türkei und vielen anderen Ländern treffe, finde ich das wunderbar für uns alle. fundiert: Sie hatten es vorhin angesprochen, Professor Nolte: Auch ohne die 68er hätte es Ihrer Meinung nach etwa die Frauenbewegung gegeben. Würden Sie so weit gehen, dass der gesellschaftliche Aufbruch auch ohne die 68er gekommen wäre?
Nolte: Nein. Die 68er, auch in einem engeren Sinne, als Studenten- und Assistentenbewegung, sind nicht wegzudenken und spielen auch in globaler Perspektive und gerade in Deutschland eine zu wichtige Rolle: als Initialzündung. Aber in vieler Hinsicht haben die deutschen 68er es sich besonders schwergemacht. Man kann zum Beispiel fragen, wie wichtig die Fixierung auf die universitäre Verfassung und die Demokratisierung der Universität war – ein Thema, das anderswo kaum eine Rolle spielte. Für das heutige Ansehen der 68er war es sehr gut, dass in den 70er Jahren neue soziale Bewegungen kamen. Diese sind zwar ohne die 68er nicht denkbar, aber fanden neue, mehr zukunftsweisende Wege.
fundiert: Inwiefern?
Nolte: Der Protest lief anders ab, als wir es in Berlin in den 60er Jahren erlebt haben. Die Anti-Atombewegung kam auf, und mit der Besetzung eines Bauplatzes für ein geplantes Kraftwerk im baden-württembergischen Wyhl gab es eine andere Form des zivilen Ungehorsams. Dort sind viel breitere Teile der Bevölkerung einbezogen worden als bei den 68ern, die das „Proletariat“ bekanntlich nicht für ihre Revolution begeistern konnten. Dadurch hat sich eine ganz neue Dynamik entfaltet.
fundiert: Haben sich die 68er in ihrem Anspruch verzettelt, haben sie zu viel gewollt?
Krippendorff: Nein, zu wenig. Es ist bedauerlich, dass von Seiten der Hochschullehrer so wenige mit den 68ern sympathisiert haben. An der Freien Universi-tät haben das ganz wenige als Chance der Erneuerung begriffen. Helmut Gollwitzer und Wilhelm Weischedel etwa, die gemeinsame Vorlesungen hielten und sich engagierten.
fundiert: Hat sich die 68er Bewegung anpassen müssen, um etwas zu erreichen? Wir denken an den Brioni- Anzug von Gerhard Schröder oder Lackschuhe statt Turnschuhen bei Joschka Fischer …
Nolte: Zum Glück haben sie sich angepasst, sonst wären sie ja nicht von ihren bizarren Revolutions- und Kommunismusphantasien losgekommen! Viele von ihnen haben es geschafft, sich zu wandeln. Es ist bemerkenswert, das zu können und dazuzulernen, zum Beispiel über die Achtung parlamentarischer Regeln. Insofern war es wichtig, dass einige den Weg ins Establishment, auch der Bundesregierung, angetreten und es verändert haben. Nur die wenigsten haben sich in den alten Positionen eingegraben.
fundiert: Demografisch betrachtet gehen die 68er spätestens 2015 in Rente. Was können die nachfolgenden Generationen lernen?
Krippendorff: Es ist ein Stück unerfüllter Traum, der Gedanke einer kritischen, selbstbestimmten Universität. Studentische Selbstbestimmung, Mitbestimmung in Forschung und Lehre. Die Universität als Freiraum, das war damals eine Perspektive, an die darf man sich gern erinnern und die kann es wieder werden.
Nolte: Keine falsche Nostalgie – jedenfalls in unseren Fächern sind Seminare selbst unter „Bologna“ nicht weniger frei, als sie es 1970 oder 1980 waren. Wir operieren heute unter ganz anderen Bedingungen als 1968 – allein, was die Prozentzahl der jungen Leute angeht, die studieren. Letztlich war die Revolte von 1968 weithin eine von Bildungsbürgerkindern, zu einer Zeit, als die Abitur- und Studierquote mit unter zehn Prozent deutlich niedriger lag als heute.
fundiert: Was bleibt als gesellschaftliches Vermächtnis?
Krippendorff: Die Möglichkeit, seinen Zorn zu artikulieren und nicht alles hinzunehmen, so wie es ist. Was heute passiert, ist so unheimlich, von der Freihandelsdiskussion angefangen bis zu ökologischen Katastrophen. Das dürfen wir nicht hinnehmen, wir müssen uns mit allen Möglichkeiten, die wir haben, zur Wehr setzen. Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel offiziell erklärt, Demokratie müsse marktkonform werden, dann sage ich, um Gottes Willen, das ist das Ende der Demokratie.
Nolte: Von den 68ern bleiben eher allgemeinere Impulse, die würde ich ähnlich formulieren wie Sie, Herr Krippendorff: Wacher, demokratischer Bürgergeist, eine Gesellschaft, die kritisch bleibt, in der Protest und Dynamik und auch Zorn dazugehören. Aber auch das, was die 68er zu kurz haben kommen lassen: Bewegung und Protest ist nicht alles; die Freiheit braucht auch Institutionen, die schützenswert sind.
Die Wissenschaftler
Prof. Dr. Ekkehart Krippendorff
Ekkehart Krippendorff gilt als einer der prominenten Vertreter der 68er. Dabei ist er gar keiner wie er gern vorrechnet. 1968 war er kein Student, sondern Assistent im Fachbereich Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Zuvor studierte er mit einem Fulbright-Stipendium drei Jahre an verschiedenen Elite-Unis in den USA. Weil er sich nach seiner Rückkehr mit der Studentenschaft solidarisierte, wurde er schnell von den Medien als Drahtzieher dargestellt, und er verlor seine Assistentenstelle. Die Studenten protestierten gegen seine Entlassung, weshalb das Sommersemester 1965 als „Krippendorff-Semester“ bekannt wurde. Seit 1978 war er Professor für Politikwissenschaft und Politik Nordamerikas am John F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, 1999 wurde er emeritiert.
Univ.-Prof. Dr. Paul Nolte
Paul Nolte, seit Juli 2005 Professor für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte in ihren internationalen Verflechtungen an der Freien Universität Berlin, ist nun schon zum vierten Mal Experte für das Wissenschaftsmagazin fundiert. Demokratie und soziale Bewegungen sind einige seiner Schwerpunkte in Forschung und Lehre. An der Freien Universität ist er unter anderem Mitglied des Akademischen Senats und des Auswahlausschusses des „Berlin Program“. Seit 2009 ist er außerdem Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin. Im Verlag DeGruyter Oldenbourg erschien gerade sein neues Buch „Transatlantische Ambivalenzen“.
Kontakt: Freie Universität Berlin Friedrich-Meinecke-Institut E-Mail: paul.nolte@fu-berlin.de