Von der Strom zur Energiewende
Wie Wissenschaftler des Forschungszentrums für Umweltpolitik die Probleme bei der Umsetzung der Energiewende zu lösen versuchen
07.10.2014
Wenn Politiker heute von der Energiewende sprechen, denken sie vor allem an Strom aus Sonnen-, Wind- und Wasserkraft. Das sei zu kurz gegriffen, mahnen Wissenschaftler des Forschungszentrums für Umweltpolitik der Freien Universität Berlin. Sie fordern eine Wende auch bei Verkehr, Heizung und Warmwasser.
Für einige Gletscher im Westen der Antarktis könnte die Energiewende zu spät kommen. Ihr Abschmelzen sei nur noch eine Frage der Zeit, warnen internationale Forscherteams seit längerem. So publizierten Wissenschaftler der University of Washington 2014 im Journal „Science“ eine Studie, wonach der ewige Eisschild der Westantarktis schwindet – und zwar schneller als bisher angenommen. Die Ursache für den Rückgang der Gletscher: Der Klimawandel. Dass der Klimawandel global unvorhersehbare Folgen haben wird, darüber herrscht auch am Forschungszentrum für Umweltpolitik (FFU) der Freien Universität Berlin kein Zweifel: „Der Klimawandel ist ein enormes Problem und wenn wir nicht mehr dagegen tun, werden wir in absehbarer Zeit einen Punkt überschreiten, an dem es kein Zurück mehr gibt“, sagt Miranda Schreurs, Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft und seit 2007 Leiterin des FFU.
Das Forschungszentrum gehört zu den weltweit führenden Instituten bei der Erforschung nachhaltiger Energiepolitik und ist eingebunden in viele politische Entscheidungsfindungen. Seine Wissenschaftler beraten die Bundesregierung genauso wie die Politiker in der Hauptstadt: Im Frühjahr dieses Jahres wurde Miranda Schreurs als Mitglied in die neu gegründete Enquete-Kommission des Berliner Senats „Neue Energie für Berlin“ gewählt. Die Gründungsmitglieder des FFU begleiten die Energiewende schon sehr viel länger: seit Aufkommen des Begriffs in den späten 1970er Jahren, als die damit verbundenen Ideen durch die Anti-Atomkraft-Bewegung und die Ölkrisen von 1973 und 1979 nach und nach populär wurden. „Die offizielle Politik der Bundesregierung war damals: ‚Raus aus dem Öl, rein ins Uran‘“, sagt Privatdozent Lutz Mez, „unser Anliegen als Verfechter einer Energiewende war aber beides: ‚Raus aus dem Öl und raus dem Uran‘!“
1986 kommt es in Tschernobyl zum SuperGAU
Wie berechtigt dieses Anliegen war, sollte sich bald zeigen. Am 23. April 1986 – exakt drei Tage vor dem Super- GAU in Tschernobyl – hatte der Fachbereichsrat Politikwissenschaft dem Antrag von Professor Martin Jänicke, Lutz Mez und Thomas Ranneberg zur Gründung der Forschungsstelle für Umweltpolitik zugestimmt.
Die Reaktorkatastrophe bestimmte auch anfänglich den Forschungsschwerpunkt: Der Umgang mit der Atomenergie hatte Priorität, und noch im Gründungsjahr waren Jänicke und Mez an einem der beiden Gutachten zum Ausstieg aus der Kernenergie für den damaligen Bundeswirtschaftsminister Martin Bangemann beteiligt. An das damalige Fazit des Gutachtens kann Lutz Mez sich noch gut erinnern: Der Ausstieg sei „technisch machbar und wirtschaftlich vertretbar.“
Obwohl auch ein zweites Gutachten zum gleichen Ergebnis kam, folgte die Bundesregierung damals den Empfehlungen zum Ausstieg nicht, sondern setzte weiter auf den Ausbau der Atomkraft in Deutschland. In den darauffolgenden Jahren erweiterte das FFU seine Forschung und verfügt heute über weitreichende Kompetenz in globalen Umweltfragen, den Themen Klima und Energie, Strategien nachhaltiger Entwicklung und Biodiversität. Im Mittelpunkt stehen seit Jahren die Themen Erneuerbare Energien und Energieeffizienz, die heute als die wichtigsten Säulen der Energiewende gelten. „Die Energiewende ist der Versuch, das deutsche Energiesystem, das auf fossilen Energieträgern und Kernenergie basiert, umzustellen auf ein nachhaltiges System, das sich an diesen Säulen orientiert“, erläutert Miranda Schreurs ihr Verständnis der aktuellen Energiewende.
Die eigentliche Energiewende begann mit Fukushima
Als Erneuerbare Energien gelten Energieträger, die praktisch unerschöpflich zur Verfügung stehen oder sich verhältnismäßig schnell erneuern. Zu ihnen zählen Wasserkraft, Wind- und Solarenergie, Erdwärme und nachwachsende Rohstoffe. Eine besondere Rolle spielt darüber hinaus die Verbesserung der Energieeffizienz: Sie bemisst, wie viel Energie aufgewendet werden muss, um einen festgelegten Nutzen zu erreichen. Eigentlich gebe es zwei Versionen, die Geschichte der Energiewende zu erzählen, sagt Miranda Schreurs: „Man kann die lange Geschichte des Widerstands gegen den unreflektierten Umgang mit fossiler und nuklearer Energie seit 1970 nacherzählen. Oder man kann sagen: ‚Die eigentliche Energiewende begann mit Fukushima, jetzt ist tatsächlich Schluss mit der Kernenergie!‘“ Schreurs tendiert zur zweiten Version.
Deutschland habe sich 2011 für eine „Energierevolution“ entschieden. Es handle sich nicht nur um eine Abkehr von der Kernenergie und von fossilen Energieträgern: „Es ist der Aufbau eines total neuen Energiesystems, das dem jetzigen ressourcenintensiven System zu 100 Prozent entgegensteht. Das neue System wird zur Folge haben, dass unsere Gesellschaft in vielen Bereichen neu gedacht werden muss; beispielsweise bei der Stadtentwicklung, der Mobilität und Architektur.“
Vor der ersten Ölkrise in den siebziger Jahren schienen die Ressourcen endlos. Viele Familien konnten sich ein eigenes Auto leisten, hoher Energieverbrauch galt als Zeichen von Reichtum. „Ein Bewusstsein für die Frage, woher die Ressourcen stammen und welche internationalen Beziehungen sie mit sich bringen, war nicht vorhanden. Niemand hat sich gefragt, aus welchen autokratischen Ländern unser Öl eigentlich stammt.“ Gleichzeitig galt die allgemeine Überzeugung, dass Kernenergie die Energie der Zukunft sei. Das zeigte sich auch in der Populärkultur: „Es gab seit Mitte der vierziger Jahre ‚Atomic-Man‘-Comics, in denen ein Mann durch Strahlung zum Superhelden wurde und im Grunde die Heilserwartungen an die Kernenergie repräsentierte“, sagt Schreurs.
Niemand fragte, woher das Öl eigentlich stammt
Die Euphorie gegenüber der Kernenergie ist heute, nach drei nuklearen Katastrophen, verflogen: Die Geschehnisse im US-amerikanischen Harrisburg von 1979, dem ukrainischen Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 sorgten für ein Umdenken. Ein Bewusstsein für die großen Probleme der vermeintlichen Wundertechnologie habe sich vor allem in der Folge von Tschernobyl entwickelt, sagt Lutz Mez: „Mit dem dortigen Super-GAU ist zum ersten Mal in einem Kraftwerk das passiert, was überhaupt nicht passieren durfte.“
Auch bei der Nutzung von Ressourcen und beim Umweltschutz sei es im Laufe der Zeit zu einem Umdenken gekommen. „Inzwischen sind das Ozonloch, der Klimawandel, saurer Regen und der Verlust der Biodiversität bekannte Probleme“, sagt Miranda Schreurs. In der Gesellschaft der 60er, 70er Jahre seien viele Aspekte der Umwelt- und Energiepolitik nicht gut genug durchdacht worden. Heute stehe die Welt deshalb vor dem Problem, alte Fehler wieder gutmachen zu müssen. Oder deren negative Auswirkungen zumindest klein zu halten. Die deutsche Energiewende seit 2011 ist ein solcher Versuch.
Doch wenn heute von der Energiewende gesprochen wird, handle es sich fälschlicherweise immer noch meist nur um die Wende im Strommarkt, kritisiert Lutz Mez. Strom mache aber nur rund 20 Prozent des Endenergieverbrauchs in Deutschland aus – die eigentlichen Probleme lägen in den Sektoren Mobilität und besonders bei Heizung und Warmwasser. „Über diese Themen wird viel zu wenig gesprochen!“ Nähme die Bundesregierung ihr Ziel ernst, 80 bis 95 Prozent der Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2050 einzusparen, müssten in allen Sektoren des Energiesystems deutlich stärkere Impulse gesetzt werden, fordert der Wissenschaftler.
Die Folgen einer einseitig interpretierten Energiewende könne man in Deutschland gut beobachten, sagt Miranda Schreurs. Der Winter 2013 etwa sei in Europa der kälteste seit 100 Jahren gewesen. In Frankreich – wo noch viel mit Strom geheizt wird – konnten die Kernkraftwerke die Nachfrage für Heizzwecke nicht decken, es drohte ein Black-out. „Deshalb wurde aus Deutschland sehr teure Elektrizität nach Frankreich und in andere Länder exportiert – vor allem von den grenznahen Braunkohlekraftwerken in Nordrhein-Westfalen“, ergänzt Mez.
Die Zunahme der Stromproduktion in Braunkohlekraftwerken wiederum ist für die Zunahme der Kohlenstoffdioxid- Emissionen in Deutschland in den vergangenen zwei Jahren verantwortlich gewesen. Die Renaissance der Kohlekraftwerke in Deutschland liege allerdings auch im Preis für den Brennstoff begründet, sagt Schreurs. Nicht zuletzt wegen der hohen Exportmenge der USA sei Kohle extrem billig. Zu billig, als dass andere Möglichkeiten der Elektrizitätserzeugung als echte Alternative etabliert werden könnten: „Wir müssen also zum einen etwas tun, damit Kohle nicht mehr so günstig zu kaufen ist, und zum anderen müssen wir und unsere Nachbarn effizienter mit unserem Energieverbrauch umgehen.“
Die Gesellschaft muss einbezogen werden
Seitens des FFU wird auch versucht, den sozialen Aspekt in die Diskussion einzubringen. Hier, vermutet Schreurs, lägen die größten Versäumnisse der Umwelt und Energiepolitik der sechziger und siebziger Jahre. Die Politik dieser Zeit habe ausschließlich auf die technische Umsetzbarkeit geachtet und die gesellschaftliche Akzeptanz ignoriert. „Wir müssen jetzt aufpassen, dass wir nicht denselben Fehler begehen und im Zusammenhang mit der Energiewende nur darauf schauen, welche technischen Lösungen vorhanden sind.“ Der Grundsatz müsse sein: Die Menschen wahrnehmen, einbeziehen und ihre Ideen nutzen. Dann, sagt Schreurs, käme die Energiewende tatsächlich einer Revolution gleich: „Ein so tiefgreifender Wandel muss, wenn er gelingen soll, mit der gesamten Gesellschaft vollzogen werden.“
Um diesen Prozess besser verstehen zu können, beteiligt sich das FFU derzeit am Forschungsverbund ENERGY-TRANS der Helmholtz-Gemeinschaft. Ziel ist es dabei, Schnittstellen zwischen Energietechnik, Energiepolitik, Planungsverfahren und Verbraucherverhalten zu erforschen. Im FFU-Teilprojekt „Governance of Electricity System Restructuring“ wird untersucht, welche Herausforderungen bei einem Transformationsprozess im Energiesystem entstehen. Im Mittelpunkt des Interesses steht die Frage, wie die Energiewende im deutschen und europäischen Mehrebensystem optimal koordiniert werden kann, damit eine Energiewende in Deutschland, aber auch in Europa tatsächlich realisiert werden kann.
Vergleichender Blick in die Nachbarländer
Um Antworten zu erhalten, richten die Forscher ihren Blick hauptsächlich auf den Aufbau neuer Infrastruktur. „Die dabei entstehenden Probleme müssen demokratisch gelöst werden“, sagt Schreurs, „etwa wenn es darum geht, ob nun dezentral Energie erzeugt werden soll, also in Städten und Kommunen, oder eher zentral, also zum Beispiel in Offshore-Windparks.“ Auch wie Strom von Nord nach Süd gelange, müsse geklärt werden. Die europäischen Nachbarländer spielen dabei eine zentrale Rolle, wie beispielsweise Norwegen und seine Wasserkraftwerke. Ein Rahmenabkommen wurde im vergangenen Jahr unterzeichnet: Von 2018 an soll Strom zwischen Deutschland und Norwegen in beide Richtungen fließen – durch ein 1.400 Megawatt-Unterseekabel.
Gleichzeitig liefert der Blick in die Nachbarländer auch Beispiele, wie und ob große Transformationsprozesse in einer Gesellschaft funktionieren. „Berliner Schule“ nennt Lutz Mez diese Form vergleichender Umweltpolitikanalyse. „Damit meinen wir den Ansatz, für alle Industrieländer relevante Daten zu sammeln und möglichst viele Indikatoren zu analysieren. Wenn sich dann eine Auffälligkeit zeigt, schauen wir uns diese Länder genauer an. Auch in einem anderen Teilprojekt eines großen Forschungsverbundes zur Endlagerung nuklearer Abfälle (ENTRIA), an dem neben dem FFU unter anderem die Technische Universitt Clauthal, die Leibniz-Universität Hannover und das Karlsruher Institut für Technologie beteiligt sind, kommt diese Form der Umweltpolitikanalyse zum Einsatz: Im internationalen Vergleich der Endlagerungs-Governance sucht man nach vorbildhaften Beispielen für die Formulierung von Politikempfehlungen.
Bei diesem Forschungsprojekt hat Schreurs lange über eine Beteiligung nachgedacht. „Es ist aber ein so wichtiges Thema, das kein Land der Welt auch nur im Ansatz bisher gelöst hat. Wir waren verpflichtet, uns dessen anzunehmen.“ Dass sich Ehrgeiz beim Thema Energiewende irgendwann auszahlt, davon sind die Wissenschaftler am FFU überzeugt. Wenn etwa Kritiker fragten, was Deutschland mit einem Anteil von gerade einmal drei Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen von seinem intensiven Einsatz für die Energiewende habe, entgegnet Schreurs: „Deutschland hat mit seiner Umweltpolitik selbst die Energiepolitik in China verändert: China passt seine Industrie- und Umweltstandards mittlerweile den deutschen an.“ Das sei ein sensationeller politischer Erfolg – an dem auch das FFU seinen Anteil habe.
Die Wissenschaftler
PD Dr. Lutz Mez
Lutz Mez studierte Politikwissenschaft, Soziologie, politische Ökonomie und skandinavische Sprachen an der Freien Universität und arbeitete im Anschluss an außeruniversitären Forschungseinrichtungen, unter anderem als Direktor des Instituts für Zukunftsforschung. Von 1984 bis 2009 war er am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft. Mit Martin Jänicke gründete er im April 1986 die Forschungsstelle für Umweltpolitik, deren Geschäftsführer er bis 2010 war. Seit November 2009 ist er Koordinator des Interdisziplinären Zentrums Berlin Centre for Caspian Region Studies (BC CARE) der Freien Universität. 1993 bis 1994 war er Gastprofessor am Roskilde Universitetscenter, Dänemark, Department of Environment, Technology and Social Studies. 2001 habilitierte er sich im Fach Politikwissenschaft. Er ist Mitglied im Editorial Board von Journal of Transdisciplinary Environmental Studies und Mitherausgeber der Reihe „Energiepolitik und Klimaschutz“ beim Springer-VS Verlag.
Kontakt: Freie Universität Berlin, Berlin Centre for Caspian Region Studies E-Mail: lutz.mez@fu-berlin.de
Prof. Dr. Miranda Schreurs
Miranda Schreurs leitet seit 2007 das Forschungszentrum für Umweltpolitik am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft und ist dort Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft. Außerdem lehrt und forscht sie an der Universität Oslo. Seit 2008 gehört sie auch dem Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung an, seit 2011 ist sie Vorsitzende des Europäischen Netzwerkes der Umwelt- und Nachhaltigkeitsräte. Im gleichen Jahr wurde sie von Angela Merkel in die Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung berufen. Seit 2014 ist Miranda Schreurs sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission „Neue Energie in Berlin – Zukunft der energiewirtschaftlichen Strukturen“. Sie hat in vielen Ländern Europas, Nordamerikas und Asiens geforscht, war Gastforscherin an der Harvard Univeristy und der Utrecht University sowie Gastprofessorin unter anderem an der Hokkaido University, der Chuo University und der Rikkyo University in Japan.
Kontakt: Freie Universität Berlin, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Forschungszentrum für Umweltpolitik (FFU) E-Mail: Miranda.Schreurs@fu-berlin.de