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Von Stahlgewittern und Tornisterbüchern

Ein Literaturwissenschaftler der Freien Universität untersucht, warum der Erste Weltkrieg auch für Schriftsteller und Denker einen Wendepunkt darstellt

07.10.2014

Die Erinnerung an den Gaskrieg ist vor allem geprägt von der späteren Rezeption in Romanen und Filmen – etwa in Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“.

Die Erinnerung an den Gaskrieg ist vor allem geprägt von der späteren Rezeption in Romanen und Filmen – etwa in Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“.
Bildquelle: picture alliance

Von euphorischer Kriegslyrik über Front-Tagebücher bis hin zu großen Antikriegsromanen wie „Im Westen nichts Neues“: Auf den Zeitraum von 1914 bis 1918 lässt sich Literatur des Ersten Weltkriegs nicht beschränken. Schon einige Jahre vor Kriegsausbruch wurden Kampf und Krieg an der „geistigen Front“ thematisiert. Nach Kriegsende setzten sich in der Weimarer Republik Künstler und Literaten auf intensive Weise mit dem Weltkrieg auseinander. Alle drei Phasen haben neue Stilformen hervorgebracht und wurden von Persönlichkeiten des kulturellen Lebens geprägt. Welche Wendepunkte der Krieg für die deutschsprachige Literatur mit sich brachte, erforscht Jürgen Brokoff, Professor für Neuere deutsche Literatur am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie.

Als am 28. Juli 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, wird die Nachricht in Deutschland und dem verbündeten Österreich-Ungarn mit Jubelschreien aufgenommen. Ein Krieg scheint ohnehin unvermeidlich. Und Kaiser Wilhelm II. ruft das deutsche Volk auf, sich gegen die „Feindschaft von Ost und West“ zu verteidigen und „fürs Vaterland“ zu kämpfen. Begeistert und siegesgewiss ziehen viele junge Männer an die Front – so oder so ähnlich schildern viele Texte und historische Dokumente die damalige Situation.

Dass sich diese Kriegseuphorie pauschalisieren lässt, bezweifelt Jürgen Brokoff. „Historiker und Literaturwissenschaftler stellen sich die Frage, ob die Begeisterung der Menschen wirklich so groß war, wie es sich in manchen Texten darstellt. Und ob es vielleicht Unterschiede zwischen der Stadt- und der Landbevölkerung gab. Man muss die Reichweite des sogenannten Hurra-Patriotismus grundsätzlich kritisch sehen“, sagt der Literaturwissenschaftler. Dass es zunächst eine Welle der Begeisterung gegeben hat, stehe jedoch außer Frage. Diese Kriegseuphorie teilen auch viele Schriftsteller und Denker jener Zeit. Thomas Mann etwa begrüßt den „Zusammenbruch einer Friedenswelt“ und führt in seiner Schrift Gedanken im Kriege, die 60 Tage nach Kriegsbeginn erscheint, weiter aus: „Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheuere Hoffnung.“

Andere Autoren wie Alfred Walter Heymel schreiben den Krieg schon in den Jahren vor 1914 herbei: „Wir sehnen uns, wir schreien nach dem Kriege“, formuliert Heymel 1911 in Eine Sehnsucht aus der Zeit. Auch im Ausland ist die Stimmung aufgeheizt: Besonders radikal äußert sich der Schriftsteller und Begründer des italienischen Futurismus Filippo Tommaso Marinetti: Er spricht bereits 1909 von der „Zone intensiven Lebens“ und der „einzigen Hygiene der Welt“, womit er Erfahrungen von Gewalt, Krieg und Katastrophen meint.

Die anfängliche Kriegseuphorie teilen auch Schriftsteller wie Thomas Mann. 60 Tage nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs schreibt er: „Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheuere Hoffnung.“

Die anfängliche Kriegseuphorie teilen auch Schriftsteller wie Thomas Mann. 60 Tage nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs schreibt er: „Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheuere Hoffnung.“
Bildquelle: wikipedia

Jürgen Brokoff legt Wert darauf, diese Väter im Geiste nicht zu übergehen. „Wenn wir von Erstem Weltkrieg und Literatur sprechen, meinen wir vor allem die Spuren, die die Weltkriegserfahrung in Kunst und Literatur hinterlassen hat. Gesellschaftliche Entwicklungen wurden aber – ebenso wie der Krieg – bereits vorgedacht.“ Literatur halte nach Vorzeichen von Veränderungen Ausschau, die selbst noch nicht eingetreten seien, sagt Brokoff. In der Kunst und Literatur der sogenannten Avantgarde zeichnen sich um 1910 erste Strömungen ab, die sich später im Expressionismus und Dadaismus verfestigen sollten. Dabei bleiben auch kritische Töne nicht aus: Der kriegerischen Weltanschauung habe sich insbesondere der Dadaismus entgegengestellt.

Die Welle der Kriegseuphorie und die unterschiedlichen Reaktionen von Autoren beschreibt Brokoff als erste bedeutsame Phase des Schreibens über das Kriegsgeschehen. Während des Ersten Weltkriegs wird eine Vielzahl von Kriegsgedichten publiziert, die großen Romane erscheinen erst nach 1918. Für Jürgen Brokoff eine erklärbare Abfolge: „Kurze Texte eignen sich viel besser, um aktuelle Geschehnisse wiederzugeben. Kriegsgedichte waren deshalb weit verbreitet. Sie spiegelten das Zeitgeschehen.“ Anhand von Kriegslyrik zeigt sich, dass Autoren mit Veränderungen der Sprache auf die kriegerischen Tendenzen der Zeit reagierten. Ein prägnantes Beispiel dafür ist der Dichter August Stramm. „Bedingt durch die eigene Kriegserfahrung beginnt Stramm nach 1914, anders zu schreiben: Die Sätze lösen sich auf, die Syntax wird zerrissen“, sagt Brokoff. „Die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg erfordern neue Darstellungsformen.“

Tod, Zerstörung und Verstümmelung finden sich wieder in fragmentarischen Texten, in stakkatoartigen Wortgebilden. August Stramm kämpfte selbst als Soldat an der Front und fiel 1915 an der russischen Grenze. In seiner Lyrik hat Stramm die Kriegsbegeisterung bereits hinter sich gelassen. Bald stellt sich auch allgemein eine gewisse Ernüchterung ein – das ist für Brokoff die zweite Phase der literarischen Beschäftigung mit dem Krieg. Das Scheitern der deutschen Truppen steht im Gegensatz zur anfänglichen Siegessicherheit der Deutschen. Auch an der Front entpuppt sich der Alltag als weniger pathetisch als gedacht. „Den jungen Soldaten, die teils frühzeitig mit einem ‚Notabitur‘ die Schule verlassen hatten, um in den Krieg zu ziehen, wurde klar, dass das Sterben kein heldenhafter Akt war, sondern namenlos und dreckig“, sagt Brokoff. Um dem eintönigen Frontalltag zu entfliehen, lesen viele Soldaten sogenannte Tornisterbücher – kleinformatige Bücher, die in den Rucksack passen.

Kurz Cornet genannt, wird etwa Rainer Maria Rilkes Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke zum Wegbegleiter vieler Soldaten. Die 1906 veröffentlichte Erzählung handelt vom Schicksal eines jungen Cornets – eines Fahnenträgers – im Türkenkrieg von 1663/1664, in dem der Protagonist einen Heldentod stirbt. Die Erzählung entstand bereits 1899. Zwei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde sie im Insel-Verlag neu aufgelegt – deutlich erfolgreicher als zuvor. „Rilkes Erzählung wurde vor und während des Ersten Weltkriegs stark rezipiert“, sagt Brokoff.

Unbekannte Handschriften Hölderlins

Auch Friedrich Hölderlin zählt zu den Favoriten der jungen Generation zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und das, obwohl er bereits um 1800 wirkte und vor allem Hymnen, Oden und Übersetzungen antiker Dramen hinterließ. Wiederentdeckt wird der Dichter vom Philologen Norbert von Hellingrath: Im Jahr 1910 findet er in einer Stuttgarter Bibliothek bis dahin unbekannte Handschriften Hölderlins, die er später auch herausgeben sollte. Damit kommt es zu einer Wende in der Wahrnehmung des Dichters, der bis dahin von der Kritik wenig geschätzt wurde: „Hellingrath hat als Erster Hölderlins Stil umfassend analysiert und beschrieben“, sagt Brokoff.

Auch Fürsprecher wie der Dichter Stefan George machen Hölderlin weithin bekannt: Dessen patriotische Gedichte („vaterländische Gesänge“) treffen – im Gegensatz zum abgeklärt und „jugendfern“ wirkenden Goethe – bei vielen Jüngeren den Nerv der Zeit. „Der umstrittene Staatsrechtler Carl Schmitt spricht im Rückblick davon, dass die vielbeschworene ‚Jugend ohne Goethe‘ eine Jugend mit Hölderlin gewesen sei“, führt Jürgen Brokoff aus. Die Hölderlin-Rezeption wandelt sich erneut, als sein Wiederentdecker 1916 in der Schlacht um Verdun fällt: „Der Philosoph Martin Heidegger widmete seine Hölderlin-Interpretationen Norbert von Hellingrath – eine bemerkenswerte Form der Gefallenenkultur“, sagt Brokoff. Ebenso wie Norbert von Hellingrath zieht der angehende Schriftsteller Ernst Jünger – mit gerade einmal 19 Jahren – an die Front.

Obwohl Jünger mehrfach verwundet wird, macht er als Offizier Karriere, ist bis zum Kriegsende im Einsatz und erhält später die höchste militärische Auszeichnung der Krone Preußens, den Orden „Pour le Mérite“. Jünger notiert alles, was er erlebt, in einem Tagebuch, das er stets bei sich trägt. Die insgesamt 15 Hefte mit Aufzeichnungen dienen ihm 1920 als Vorlage für sein erstes Buch In Stahlgewittern. Darin schildert er seine Kriegserlebnisse sachlich und detailliert. Der Protagonist hinterfragt den Krieg nicht, sondern nimmt ihn als „Naturgewalt“ wahr. Wegen des weitgehend neutralen Tons bleibt das Buch für Kritiker ambivalent: Es kann als Zustimmung zum Krieg, oder aber wertfrei als nüchtern-illusionsloser Kriegsbericht verstanden werden. Als In Stahlgewittern erscheint, ist der Krieg bereits seit zwei Jahren beendet.

Und auch in den Folgejahren widmen sich Autoren noch der Interpretation der Geschehnisse. Jünger etwa thematisiert den Krieg in seinen Büchern bis ins Jahr 1932. „Erst in der Weimarer Republik findet die tatsächliche Auseinandersetzung mit dem Krieg statt“, sagt Brokoff. Für den Wissenschaftler ist das die entscheidende Phase in der Beziehung von Weltkrieg und Literatur – „um zu verstehen, wie der Krieg von Zeitgenossen und unmittelbar Betroffenen aufgefasst wurde“. Interpretiert werde der Krieg durch zwei Arten von Kriegsliteratur: Sogenannte Kriegsbücher, die auf realen Erlebnissen beruhen, aber ästhetisch geformt sind. Dazu zählt Jüngers Stahlgewitter.

Im Westen nichts Neues

Dem gegenüber stünden Kriegsromane, die die Erfahrungen in eine fiktionale Geschichte einbetten, wie das einflussreiche Werk Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque: Darin erzählt der Autor, wie ein junger Soldaten den grausamdesillusionierenden Frontalltag und die Entfremdung von der Zivilisation erlebt. „Wie Jünger bemüht sich Remarque um einen nüchternen, sachlichen Ton und begreift das Buch selbst als Bericht“, sagt Brokoff. „Es herrscht jedoch Konsens, dass der Roman als Antikriegsbuch aufzufassen ist.“ Aus heutiger Perspektive lasse sich der Erste Weltkrieg keinesfalls isoliert beurteilen, davon ist der Literaturwissenschaftler überzeugt: „Er war ja der Auftakt für den Zweiten Weltkrieg zwei Jahrzehnte später.“ Die Zeit zwischen 1914 bis 1945 wird deshalb auch als „Epoche eines zweiten Dreißigjährigen Krieges“ verstanden.

Für Brokoff ist der Blick auf die Weimarer Republik zentral, wenn es um die die nachträgliche Bearbeitung und Deutung des Ersten Weltkrieges geht. Der Kriegsgedanke lebte in der demokratisch labilen Weimarer Republik auch nach der Kapitulation in der Gesellschaft weiter, sagt der Experte. Ernst Jünger habe das als einer der ersten erkannt. „Allerdings begrüßt er die allumfassende Militarisierung und trägt den Kriegsgedanken in die Zukunft“, sagt Brokoff. Eine Tendenz , die – wie heute jeder weiß – schon bald Realität werden und zu einem neuen Weltkrieg führen sollten. Doch auch erste pazifistische Ideen wurden im Nachklang des Ersten Weltkriegs geboren. „Viele Autoren, die den Krieg erst bejubelten, revidierten ihre Meinungen später“, sagt Brokoff. „Und auf der Suche nach einer Alternative zur geistigen Mobilmachung zog es viele Schriftsteller und Intellektuelle schon während des Krieges in die neutrale Schweiz.“

Die Idee eines vereinten Europas entsteht

Andere wie Romain Rolland oder Stefan Zweig unterstützen früh den Gedanken einer stark vernetzten Welt, die Idee eines Völkerbundes innerhalb Europas. Aufgrund der damaligen Mächtekonstellationen ist diese jedoch zunächst zum Scheitern verurteilt. Der Europagedanke prägt auch die aktuelle Forschung zum Ersten Weltkrieg. Heute – 100 Jahre später – betrachtet man den Ersten Weltkrieg zunehmend in vergleichender europäischer Perspektive: „In England spielt zum Beispiel die Auseinandersetzung mit der Trauma-Literatur, die den sogenannten shell shock behandelt, in dem viele Soldaten die Kontrolle über sich selbst verloren, eine viel größere Rolle als hierzulande“, sagt Brokoff. Er plädiert dafür, die größeren Zusammenhänge in den Blick zu nehmen. „Wir erleben heute ein Europa, das Intellektuelle und Schriftsteller vor 100 Jahren bereits vorgedacht haben.“ Daran wird deutlich, wie wichtig eine Rückbesinnung auf frühere Zeiten ist – um zu verstehen und zu erinnern.  

Prof. Dr. Jürgen Brokoff

Prof. Dr. Jürgen Brokoff
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Der Experte:

Prof. Dr. Jürgen Brokoff ist Professor für Neuere deutsche Literatur am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin. Seine Forschung umfasst vorrangig vier Themenfelder: Ernst Jünger und seine Deutung des Ersten Weltkrieges; die Wiederentdeckung des Germanisten Norbert von Hellingrath, welcher wiederum die Begeisterung für Friedrich Hölderlin neu entfachte; der Zusammenhang von Avantgarde-Kunst und Krieg; und nicht zuletzt das Verhältnis von Krieg und Literatur insgesamt. Dabei interessieren Brokoff der Erste Weltkrieg und Literatur, die Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges nach 1945 sowie die Bearbeitung beider Weltkriege in der Gegenwartsliteratur seit der Wiedervereinigung Deutschlands.

Kontakt: Freie Universität Berlin, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie, Arbeitsbereich Neuere deutsche Literatur E-Mail: juergen.brokoff@fu-berlin.de