Heilen und Teilen
Das Wissen zu Medizinalpflanzen besteht seit Generationen – seine globale Vermarktung folgt modernen Mechanismen
17.04.2012
Das Interesse der Industrienationen an Naturprodukten ist groß, die Ressourcen und das Wissen hierfür haben indes häufig indigene Bevölkerungsgruppen in den sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländern. Wer hat ein Recht auf dieses Wissen, wie darf es angewendet werden – und wie steht es in diesem Zusammenhang um die Umsetzung internationaler Abkommen? Diesen Fragen gehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Freien Universität in Südafrika, Brasilien und Indien nach.
Hoodia gordonii wächst in der Kalahari-Wüste. Die sukkulente, also saftreiche Pflanze sieht aus wie ein unschön geratener Kaktus, enthält aber einen wertvollen Wirkstoff: „P57“. Mit ihm lässt sich Hunger unterdrücken. Die besondere Eigenschaft der Hoodia gordonii nutzen die Khoisan, eine indigene Bevölkerungsgruppe im südlichen Afrika, seit Generationen bei langen Wanderungen durch die Wüste. 1996 isolierten Wissenschaftler des südafrikanischen Forschungsbeirates für Wissenschaft und Industrie (CSIR) das Molekül „P57“. Eine Auseinandersetzung um millionenschwere Lizenzen zwischen amerikanischen und europäischen Konzernen begann, Menschrechtsorganisationen klagten. Zur gemeinsamen Erforschung der Hoodia-Pflanze wurde schließlich ein Lizenzvertrag geschlossen zwischen der englischen Firma Phytopharm und dem niederländisch-britischen Konsumgüterkonzern Unilever, zu dessen Produktpalette neben Speiseeis und Schokoladenriegeln auch Kosmetika sowie Haushalts- und Textilpflegeprodukte gehören. Die Ergebnisse scheinen für Unilever allerdings nicht erfolgversprechend zu sein, denn der Konzern hat sich inzwischen aus dem Hoodia-Markt zurückgezogen.
Pflanzen wie Hoodia oder auch die Teufelskralle, die von indigenen Bevölkerungen seit Jahrhunderten eingesetzt werden, sind längst in Schulmedizin und Industrie gefragt. Gesucht sind Gewächse, deren Wirkstoffe gegen Krankheiten oder eben auch gewinnbringend in Kosmetika und Nahrungsergänzungsmitteln eingesetzt werden können – vor allem in sogenannten Hotspots, Regionen der Erde, in denen besonders viele Pflanzenarten vorkommen, die als endemisch gelten – also nirgendwo anders vorkommen.
Tradition und Moderne in Afrika
Seit den 80er Jahren wird das Thema weltweit diskutiert: Regierungen einzelner Staaten sowie lokale, nationale und internationale Organisationen versuchen, gegen Biopiraterie vorzugehen und Patentrechte für indigene Bevölkerungen einzuklagen. Zahlreiche Richtlinien und politische Abkommen wurden inzwischen unterzeichnet. „Die soziale und kulturelle Praxis ist allerdings viel brüchiger als es die politischen Abkommen vorsehen“, sagt Hansjörg Dilger, Juniorprofessor am Institut für Ethnologie der Freien Universität, an dem er 2010 die Arbeitsstelle Medizinethnologie gegründet hat.
Welche Bedeutung die traditionelle Medizin in der Bevölkerung hat, ist bisher kaum erforscht: „Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation greifen rund 80 Prozent der Bevölkerung im sub-saharanischen Afrika bei der primären Gesundheitsversorgung auf traditionelle Medizin zurück“, sagt Dilger. „Zu den rechtlichen und sozialen Strukturen hinter dem Wirtschaftszweig gibt es aber kaum Studien.“ Erst recht nicht zu den Bedingungen, unter denen das lokale Wissen zu Heilpflanzen in nationale Gesundheitssysteme und schließlich in den Weltmarkt gelangt. Das intellektuelle Eigentum im Prozess der Bioprospektion – der Extraktion biologischer und genetischer Wirkstoffe zur kommerziellen Nutzung – zu schützen, ist schwer. Es ist schon nicht leicht, den Eigentümer zu ermitteln.
Wem gehört das Wissen?
Wem gehört das Wissen über Medizinalpflanzen? Sollte es der Menschheit dienen und allgemein zugänglich sein? Darf es auch von Konsumgüterkonzernen genutzt werden? Britta Rutert, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle Medizinethnologie, untersucht in ihrem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten und von Hansjörg Dilger geleiteten Promotionsprojekt Bioprospecting in the African Renaissance: From Muthi to Intellectual Property Rights wie man in Südafrika mit diesen Fragen umgeht.
Die sogenannte afrikanische Renaissance wurde Ende der 90er Jahre vom damaligen südafrikanischen Präsidenten Thabo Mbeki beschworen: Lokale Werte sollten wiederbelebt und lokales Wissen gestärkt, gleichzeitig aber auch global vermarktet werden – ein Balanceakt, der verstärkt in Zusammenhang mit der Behandlung von Krankheiten wie Malaria oder HIV/AIDS diskutiert wird: Die heutige südafrikanische Regierung betrachte das Interesse der Industrienationen an Naturprodukten als zukunftsträchtigen Wirtschaftsmotor, meint Britta Rutert: „Südafrika hat wie viele Länder auf der Südhalbkugel aber weder die finanziellen Mittel noch die Technologie, um Qualitätsprodukte für den internationalen Markt herzustellen.“
Akteure und ihre Interessen
In den vergangenen Jahren brachte Südafrika erste Richtlinien zur Bioprospektion – etwa den Biodiversity Act (2004) – und Institutionen zu deren Umsetzung auf den Weg. Das Medical Research Council, die nationale Forschungsorganisation für Medizin, hat mit dem Indigenous Knowledge Health Lead Program eine eigene Forschungseinheit zum Thema geschaffen, einer der Kooperationspartner des DFG-Projekts. Kritiker im Land richten sich gegen die Kommerzialisierung indigenen Wissens und erwarten, dass die vorhandenen Ressourcen genutzt werden, um nationale Probleme im Gesundheitsbereich anzugehen. „Es fehlen klare Positionen“, sagt Britta Rutert und gibt ein Beispiel: „Sutherlandia ist eine Pflanze, die das Immunsystem von HIV/AIDS-Patienten stärken soll, darauf haben lokale Heiler und vorklinische Studien mehrerer südafrikanischer Universitäten hingewiesen.“ Dieser Aspekt werde bisher jedoch von der südafrikanischen Politik wenig verfolgt.
Das Wissen zu Medizinalpflanzen ist alt, seine globale Vermarktung aber ein noch relativ junger Geschäftszweig, den es angesichts wissenschaftlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Erwartungen sorgsam zu entwickeln gilt. Diesen Prozess nimmt Britta Rutert in Südafrika auf verschiedenen Ebenen in den Blick: Sie untersucht die Bedeutung der traditionellen Medizin in der Bevölkerung, erfragt, wie geistiges Eigentum dort definiert wird, welche Dynamiken das Thema in einzelnen Gemeinden in Gang setzt – und sie beobachtet, welche Akteure aus dem In- und Ausland sich einschalten. Dazu zählen Heiler und Heiler-Organisationen ebenso wie Wissenschaftler und Forschungslabore, Pharmakonzerne, Vertreter von Regierungen und Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs). Entsprechend komplex ist der Verbund aus unterschiedlichen Interessen und Netzwerken.
Forschung im Feld
Ein näherer Blick auf den Hotspot Südafrika erklärt das große Interesse: Mit mehr als 30.000 Pflanzenarten – rund zehn Prozent der weltweit bekannten – zählt der Staat am Südzipfel des Kontinents zu den Ländern mit der größten Artenvielfalt der Erde. Unter den zahlreichen endemischen Pflanzen sind viele mit besonderen biologisch-chemischen Wirkstoffen. Muthi wird die traditionelle Medizin genannt. Der Begriff ist abgeleitet aus dem Zulu, dort bedeutet Muthi „Baum“, und bezeichnet Mischungen aus Pflanzen, die von traditionellen Heilern angewandt werden – bei der Behandlung von Krankheiten, für rituell-zeremonielle Zwecke oder die psychische Unterstützung ihrer Patienten.
Seit Ende 2008 verbrachte Britta Rutert insgesamt eineinhalb Jahre zu Forschungszwecken in Südafrika, momentan forscht sie in einem Naturreservat in den nordöstlichen Provinzen Mpumalanga und Limpopo. Sie hat Muthi-Märkte in Johannesburg und Durban besucht, Heiler im Arbeitsalltag und beim Sammeln von Heilpflanzen begleitet, sich selbst behandeln lassen – und viel gelernt: „Jede Medizinalpflanze hat einen speziellen Namen, der auf ihre Wirkung hinweist oder eine andere bestimmte Bedeutung in sich trägt“, sagt die Ethnologin. Um solche Details in ihren Interviews verstehen und dokumentieren zu können, hat sie Sprachkurse für Zulu und Xhosa besucht, zwei der elf Amtssprachen. Zugleich arbeitet sie mit örtlichen Übersetzern zusammen, Informanten und Kooperationspartnern. Durch Archivmaterial, vor allem aber durch teilnehmende Beobachtung sowie Hunderte von Interviews und informeller Gespräche verschafft sie sich einen Überblick über gesellschaftliche Hintergründe und aktuelle Entwicklungen, die bei der Nutzung und Vermarktung von Heilpflanzen und ihrer besonderen Wirkstoffe in Südafrika eine Rolle spielen.
Das Interesse am Wissen südafrikanischer Heiler ist groß, im Land selbst scheint es jedoch schleichend verloren zu gehen: Während des Systems der Rassentrennung, der Apartheid, war der schwarzen Bevölkerung der Zugang zu Land gesetzlich ebenso untersagt wie dessen Erwerb, traditionelles Heilen war zudem durch den Witchcraft Suppression Act – das Gesetz zur Bekämpfung der Hexerei – seit 1957 verboten. Heiler konnten ihrer Berufung nur sehr begrenzt nachgehen, viel Wissen stirbt seither mit der älteren Generation. Trotzdem ist dieses Wissen nach wie vor von großem ideellen Wert für die Bevölkerung – gestärkt durch den politischen Umschwung in den 90er Jahren.
Wissen weitergeben
Heute stellt der Naturschutz ein großes Problem dar – so absurd es klingt: Durch zunehmend wachsende Naturreservate verlieren Heiler erneut frei zugängliche Landflächen, um Pflanzen zu sammeln. Sie greifen deshalb auch auf das Angebot von Muthi Shops und Händlern zurück, erfuhr Rutert von südafrikanischen Informanten: „Die Händler geben wohl bei sogenannten illegalen Erntearbeitern mit einer Art Einkaufsliste Bestellungen auf. Für einen Sack voller Pflanzen zahlen sie zwischen 20 und 50 Rand, umgerechnet zwei bis fünf Euro.“ Mit der Nachfrage an Pflanzenmaterial steige auch der illegale Handel und ebenso die Züchtung geschützter Wildpflanzen in Plantagen – ein neuer Wirtschaftszweig, der in der gesamten Region expandiere.
Zukunft Zivilgesellschaft
Das Geschäft mit den Heilpflanzen läuft nicht nur aus kulturellen oder politischen Gründen heimlich ab. Das erschwert die Forschungsarbeiten, aber auch die Wissensvermittlung an die jüngere Generation, die ohnehin Jobs in anderen Branchen sucht. Wie also kann das Know-how der Heiler erhalten und weitergegeben werden? Bei ihrer Forschung ist Britta Rutert auf das Projekt TRAMED – kurz für South African Traditional Medicines Database – gestoßen: Die südafrikanische Regierung erstellt zurzeit in Kooperation mit der South African Traditional Medicines Research Unit der University of Cape Town eine Datenbank, in der Wissensbestände für künftige Generationen gesichert werden sollen – wenn auch fragmentarisch.
Welchen Einfluss zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse auf nationaler und internationaler Ebene haben können, wird auch in abgeschieden lebenden indigenen Gruppen zunehmend deutlich: Heiler vernetzen sich. Ein Prozess, der erst seit den politischen Umbrüchen in den Neunzigerjahren einsetzen konnte. Bedeutendste Dachorganisation ist Rutert zufolge die Traditional Healers‘ Organization for Africa. Auf lokaler Ebene begleitet die Ethnologin unter anderem die Arbeit der Nichtregierungsorganisation Natural Justice, die nationale und internationale Informationsveranstaltungen und Workshops zur Bioprospektion und zur Sicherung von Eigentumsrechten organisiert.
Eigentum der Ahnen
Die Diskussionen bei diesen Zusammenkünften verdeutlichen die Verstrickung der Heiler im verwobenen Netz sämtlicher Interessensvertreter – und sie zeigen, dass die Fragen nach geistigem Eigentum und Identität gerade bei der heterogenen Bevölkerung Südafrikas nicht einfach zu beantworten sind: Wer ist überhaupt „indigen“ und wer nicht? „Die Kategorisierung der Bevölkerung in einzelne Gruppen ist letztendlich ein künstliches Konstrukt der Kolonialzeit“, sagt Hansjörg Dilger, „die Interessen innerhalb der Gruppen sind sehr verschieden.“
Wer hat ein Recht auf das geistige Eigentum? Auch diese Frage ist Ethnologen zufolge nur schwer zu beantworten: Das Wissen über Medizinalpflanzen und ihre Wirkungsweisen ist in einer Art Wissenskette und in komplexen sozialen Beziehungen verankert – es gehört nicht unbedingt einzelnen Personen, sondern unter Umständen ganzen Heilergilden, der Familie oder Ethnie, manche Bereiche sind nach lokalem Verständnis im Besitz der Ahnen. „Für internationale Organisationen sind diese Konzepte nur schwer nachzuvollziehen – nach westlicher Auffassung geht man häufig von einem individuellen Konzept von Eigentum oder einer kollektivistischen Idee indigener Gruppen aus“, sagt Hansjörg Dilger. „Dies ist einer der Gründe, wegen derer die internationalen Abkommen nicht greifen können: Sie sind in einem eurozentrischen Kontext entstanden.“
Wichtig werden deshalb – neben internationalen Abkommen, Richtlinien und Institutionen – künftig einflussreiche und charismatische Persönlichkeiten sein, die sich gegen Biopiraterie weltweit einsetzen, sagt Britta Rutert. Sie misst dem Gefühl für Moral große Bedeutung bei: „Die Kenntnisse über die Heilpflanzen sollten wachsen und der Allgemeinheit dienen. Aber ihre Nutzung sollte nicht denjenigen die Wurzeln entreißen, die das Wissen über Generationen gesät und gepflegt haben.“
Internationale Abkommen zur Bioprospektion
Politikwissenschaftler untersuchen deren Umsetzung in Brasilien und Indien
Zwei internationale Abkommen sind entscheidend für die weltweite Bioprospektion – kurz: TRIPs und CBD. Zusammen mit der Gründung der Welthandelsorganisation (WTO) wurde 1994 das „Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des Geistigen Eigentums“ (Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights, TRIPs) getroffen. Das Abkommen regelt den Umgang mit Urheberrecht, Markenrecht oder Patenten. Die bereits zwei Jahre zuvor proklamierte „Konvention zum Schutz und Erhalt der Biologischen Vielfalt“ (Convention on Biological Diversity, CBD) war das erste internationale Regelwerk, das Maßstäbe zur kommerziellen Nutzung von biologischen und genetischen Wirkstoffen gesetzt und die Umsetzung der Richtlinien in die Verantwortung der Unterzeichnerstaaten gestellt hat. Ziele der CBD sind der Erhalt der biologischen Vielfalt, die nachhaltige Nutzung der Ressourcen sowie eine faire und angemessene Verteilung der Profite, die durch die Nutzung genetischer Ressourcen entstehen. Demnach sollen sowohl das Wissen über Medizinalpflanzen als auch das Pflanzenmaterial selbst nicht ohne vorherige Zustimmung der Wissenden vermarktet werden; bei einer Vermarktung sollen Entwicklungsländer und indigene Bevölkerungen am Gewinn beteiligt werden.
Ob und wie diese Abkommen in der Praxis umgesetzt werden, wurde bisher kaum untersucht. Wissenschaftler am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität nehmen dies in einem Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs SFB 700 „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“ in den Blick. „Die Abkommen bieten den Staaten gewisse Handlungsspielräume“, sagt Professorin Susanne Lütz, die das Projekt an der Arbeitsstelle Internationale Politische Ökonomie leitet: „Wir untersuchen, wie Schwellenländer, in denen oft die Expertise und die Ressourcen zur effektiven Durchsetzung von Regeln beschränkt sind, auf der gesetzlichen Ebene damit umgehen und wie die Institutionalisierung funktioniert.“
Das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des Geistigen Eigentums, TRIPs, wurde initiiert von US-amerikanischen Konzernen und steht in der Kritik von Entwicklungsländern, NGOs und Wissenschaftlern – auch von Thomas Eimer, wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB-Projekt „Wissen, Ware, Widerstand: Governance im Bereich geistiger Eigentumsrechte in Indien und Brasilien“: „TRIPs bietet in erster Linie Schutz für die industriellen Innovationen des Nordens und ist widersprüchlich“, sagt der promovierte Politikwissenschaftler. Er forscht speziell zum Schutz indigener Wissensbestände – etwa zu Heilpflanzen –, der seiner Meinung nach selbst durch die Konvention zum Schutz und Erhalt der Biologischen Vielfalt nur begrenzt funktionieren kann: „Die CBD verfügt über keine effektiv wirksamen Durchsetzungsinstrumente, von wichtigen Staaten wie den USA ist sie noch nicht einmal ratifiziert worden – da hätte die Life Science-Industrie gar nicht mitgespielt.“
Wie Brasilien und Indien die Richtlinien auslegen und umsetzen, untersucht Thomas Eimer gemeinsam mit Verena Schüren, ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt. Sie konzentriert sich auf technologische Innovationen und Patente. Seit 2010 haben die beiden Konferenzen der WTO, EU und Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf und Brüssel besucht und Vertreter der Organisationen getroffen; mehrere Wochen pro Jahr forschen sie in unterschiedlichen Regionen Brasiliens und Indiens.
Zwei entscheidende Faktoren haben sich im Vergleich der beiden Länder inzwischen für sie herauskristallisiert: Wie effektiv die Richtlinien umgesetzt und Ressourcen geschützt werden, hängt zum einen stark vom politischen System eines Landes und seinen Machtkonstellationen ab, zum anderen von der Zivilgesellschaft. Hier gebe es große Unterschiede: „Brasilien ist in puncto Bioprospektion relativ gut aufgestellt und hat strenge Auflagen erarbeitet“, sagt Thomas Eimer. „Das Umweltministerium ist sehr engagiert und verfügt über entsprechendes Fachpersonal und Netzwerke. Kommt eine Anfrage zur Nutzung von indigenem Wissen oder Heilpflanzen, schalten sich gegebenenfalls auch Staatsanwaltschaft, das staatliche Indigenen-Amt und Nichtregierungsorganisationen in Verhandlungen ein.“ Die indigenen Gemeinschaften in Brasilien seien gut vernetzt und organisiert. „Das liegt auch daran, dass viele der Interessensvertreter ehemalige Aktivisten aus linken Gruppen sind, die sich im Zuge der Revolution in den 1980er Jahren entwickelt haben“, sagt Eimer. „In Indien dagegen werden indigene Interessen marginalisiert und teilweise auch durch staatliche Repression geschwächt, das Wissen der Indigenen wird nur als Rohstoff für die biotechnologische Forschung geschätzt.“ Und damit auch nicht geschützt – der Staat sei gegenüber westlichen Unternehmen sehr offen, die Wirtschaftsmacht China werde häufig als Vorbild betrachtet. Es sei also umso leichter, Regeln zu umgehen und Schlupflöcher zu nutzen. Bestechung und illegale Machenschaften seien an der Tagesordnung. Nicht unproblematisch für die Arbeit der Wissenschaftler: „Es ist nicht immer leicht, Ansprechpartner zu finden, Gespräche finden unter strengster Geheimhaltung statt, Tonbandgeräte dürfen wir kaum benutzen“, sagt Verena Schüren.
Nützen die internationalen Abkommen also am Ende gar nichts? „Die Frage ist vielmehr, ob sie überhaupt greifen sollen“, sagt Thomas Eimer. Aus ethischen und menschlich-moralischen Gesichtspunkten müssten vor allem die Industrienationen Veränderungen im internationalen Patentrecht zustimmen, wie sie von Brasilien und anderen Entwicklungs- und Schwellenländern gefordert werden. Eimer ist aber überzeugt, dass ökonomische Interessen überwiegen würden, und es zu keiner Zustimmung kommen werde – allerdings: „Vor dem Hintergrund der globalen Unruheherde und des internationalen Terrorismus‘ läge es im Eigeninteresse, umzudenken.“
Aus der Perspektive des Pharmazeuten
Matthias F. Melzig setzt auf die weltweite Zusammenarbeit von Wissenschaftlern
Die kommerzielle Nutzung biologischer und genetischer Wirkstoffe von Pflanzen – die sogenannte Bioprospektion – birgt viele Spannungsfelder. „Diese sind nur durch eine Zusammenarbeit von Bevölkerung, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zu lösen“, sagt Matthias F. Melzig, Professor für Pharmazeutische Biologie am Institut für Pharmazie der Freien Universität. Mit seiner Arbeitsgruppe untersucht er die Isolation, chemische Charakterisierung und pharmakologische Wirkung von Naturstoffen aus Pflanzen. Einen Schwerpunkt bildet die Forschung zu Arzneipflanzen, die in der Volksheilkunde seit Langem eingesetzt werden, über deren biologische Wirkungen aber bisher wenig bekannt ist.
Wichtig nach Meinung des Pharmazeuten ist auch der Austausch zwischen Experten der Nord- und der Südhalbkugel – bei internationalen Konferenzen beispielsweise, aber auch bei der alltäglichen Arbeit: „Wir lernen mehr zum Umgang mit Pflanzen in anderen Ländern, und die Kollegen erhalten bei uns einen Eindruck von moderner Forschungsinfrastruktur, die in ihren Ländern häufig nicht gegeben ist.“ Gerade sei eine Wissenschaftlerin aus Brasilien am Institut zu Gast – Andrea Sobottka vom Institut für Biowissenschaften der Universidade de Passo Fundo im Bundesstaat Rio Grande do Sul. Staaten und Behörden, die einen Wissenschaftleraustausch durch zu strenge Auflagen scheuen, riskieren Matthias Melzigs Meinung nach den Stillstand eines wichtigen Forschungszweiges.
Ein systematischer „Wissensklau“ ist ihm zufolge aus wissenschaftlicher Sicht unwahrscheinlich. „Für uns Pharmazeuten gibt es durch die bindenden Abkommen zwei Wege in der Forschung, die nur mit entsprechenden Kooperationen und Genehmigungen der jeweiligen Behörden möglich werden: Entweder wir nehmen das Wissen von lokalen Heilern im Ursprungsland auf, dokumentieren es und untersuchen die entsprechende Pflanze im Feld, oder aber wir untersuchen Hotspots – Gebiete, in denen besonders viele Pflanzenarten vorkommen, die nirgendwo sonst wachsen – und entdecken selbst etwas Neues“, sagt Melzig. „In beiden Fällen dürfen wir ohne Genehmigung nichts außer Landes bringen.“ Das riskiere auch keiner, schwarze Schafe würden früher oder später entdeckt: „In der akademischen Forschung geht es um einen seriösen Ruf und renommierte Publikationen – und nicht darum, Wissen direkt zu Geld zu machen. Und was erst einmal publiziert ist, kann ohnehin nicht mehr patentiert werden.“ Publiziert werde gemeinsam mit den Kooperationspartnern. „Wir forschen doch längst nicht mehr allein in unseren Laboren, sondern sind Teil einer globalen Forschung zu globalen Themen.“
Besonders interessiert verfolgt der Wissenschaftler die Jagd nach noch unbekannten marinen Organismen wie Algen oder auch Korallen aus internationalen Gewässern, zu der es bisher noch keine internationalen Maßgaben und Richtlinien gibt: „Hier wird im großen Stil geforscht und sicherlich auch ausreichend Raubbau betrieben.“ Wer der Schnellste sei und neue Forschungsergebnisse präsentieren könne, mache den großen Profit, sagt Melzig. „Deutschland engagiert sich vor allem in der Forschung zu angrenzenden Meeren wie Nord- und Ostsee oder Atlantik. Die Meere im Süden sind aber viel artenreicher. Hier wird man wohl eine größere Anzahl mariner Wirkstoffe isolieren können. Pazifik-Anrainer wie die USA, China, Japan und Korea haben längst entsprechende Forschungsschwerpunkte gesetzt.“ Wem gehören die künftigen Forschungsergebnisse? Wie wirksam können Abkommen zur Biodiversität in internationalen Gewässern sein? Melzig ist skeptisch: „Eine allgemein anerkannte Verfahrensweise, die allen Beteiligten gerecht wird, wird es wohl nicht geben.“