Lesarten der Bibel
Die Islamwissenschaftlerin Sabine Schmidtke untersucht mit einem internationalen Forscherteam historische Übersetzungen der Heiligen Schrift ins Arabische
30.10.2012
Die ersten arabischen Bibelübersetzungen werden auf das 8. Jahrhundert datiert. Ein Zeitpunkt, zu dem ein folgenreicher Paradigmenwechsel stattfindet: „Mit dem Aufkommen des Islam lässt sich relativ schnell beobachten, dass Christen, Juden und Samaritaner aufhören, ihre ursprünglichen Sprachen zu sprechen“, sagt die Islamwissenschaftlerin. Im jüdischen Raum seien das Hebräisch und Aramäisch, im christlichen Raum Syrisch, Griechisch und Koptisch gewesen – im samaritischen Raum wurden mehrere Sprachen gesprochen. Spätestens im 10. Jahrhundert hatte das Arabische alle diese Sprachen weitgehend verdrängt.
Dadurch konnten viele Gläubige die Heilige Schrift in ihren Ursprungssprachen nicht mehr lesen und verstehen. Übersetzer begannen, die Bibel ins Arabische zu übertragen – mit unterschiedlichen Vorstellungen, Ideologien und Verständnishorizonten. Um ebendiese Unterschiede geht es in dem Projekt des Forscherverbunds. „Wir haben verschiedene Übersetzungstraditionen, die sich nicht nur innerhalb der Religionen, sondern auch innerhalb der Kulturen in ihren jeweiligen geografischen Ausdehnungen enorm unterscheiden. Daraus ergibt sich ein komplexes Bild an Interpretationen, das bislang nur unzureichend erforscht worden ist.“
Zweifellos haben die Manuskripte einen enormen wissenschaftlichen Wert. Denn die Dokumente geben nicht nur Auskunft darüber, wie das arabische Christentum die Heilige Schrift verstand, sondern auch, wie verschiedene Zweige des Islam die Bibel interpretierten: „Teile der Bibel wurden als Ankündigung der Prophetie Mohammeds gelesen. Hintergrund ist das Eigenverständnis des Korans, der sich als letzte vollkommene Offenbarung sieht und sich damit in die Tradition des Alten und Neuen Testamentes stellt. Deswegen ist dieses Material für Muslime schon immer interessant gewesen.“
Hinzu kommen die verschiedenen Bibelübersetzungen von jüdischen Gelehrten, die neben den christlichen und islamischen eine dritte Übersetzungstradition begründeten. Die Frage ist nun: Wie haben die kulturellen Wertvorstellungen die Übersetzungen geprägt? Welche Begriffe und Terminologien wurden in den arabischen Übersetzungstraditionen verwendet? Wo kam es zum Dialog zwischen den Kulturen - und wo schieden sich die Geister? „Aus einer einzigen Perspektive sind diese Fragen gar nicht zu beantworten“, sagt Sabine Schmidtke. „Das ist nur in gemeinsamer interdisziplinärer Forschungsarbeit zu leisten.“
Daher wollen die Wissenschaftler das Wissen über die verschiedenen Bibelübersetzungen an zentraler Stelle bündeln und auf diesem Wege vergleichende Interpretationen ermöglichen. „Wir wollen Stimmen aus der christlichen, jüdischen und muslimischen Bibelwissenschaft zusammenbringen und mit der muslimischen Rezeption der Heiligen Schrift in Verbindung setzen.“
Weitere Informationen
Prof. Dr. Sabine Schmidtke, Freie Universität Berlin, Research Unit Intellectual History of the Islamicate World, Telefon: 030 838-52487, E-Mail: sabineschmidtke@gmail.com