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„Philosophie war Liebe auf den ersten Blick“

Dankbar und freudig überrascht: Ein Interview mit der Philosophin Barbara Vetter, Leibniz-Preisträgerin 2026

17.12.2025

Universitätspräsident Günter M. Ziegler (r.) und Vizepräsident und Philosophieprofessor Georg Bertram gratulierten Barbara Vetter am 11. Dezember 2025 im Büro des Präsidenten. Die offizielle Leibniz-Preisverleihung findet am 18. März 2026 statt.

Universitätspräsident Günter M. Ziegler (r.) und Vizepräsident und Philosophieprofessor Georg Bertram gratulierten Barbara Vetter am 11. Dezember 2025 im Büro des Präsidenten. Die offizielle Leibniz-Preisverleihung findet am 18. März 2026 statt.
Bildquelle: Christine Xuân Müller

Sie wird im kommenden Jahr mit dem wichtigsten Forschungsförderpreis ausgezeichnet: Barbara Vetter, Philosophieprofessorin an der Freien Universität Berlin. Im Interview, kurz nach der Bekanntgabe geführt, erklärt sie, wie Philosophie zu ihrer Leidenschaft wurde, welche Rolle das „Können“ in ihrer Forschung spielt – und warum das Fach Philosophie Studierende aus unterschiedlichen Milieus und mit vielfältigem Hintergrund braucht.

Frau Professorin Vetter, als Ihr Handy klingelte und Sie hörten, dass Sie Leibniz-Preisträgerin 2026 sind – wie haben Sie reagiert?

Zunächst hat es mir wortwörtlich die Sprache verschlagen, weil ich damit ganz und gar nicht gerechnet hatte. Ich kann deshalb gar nicht mehr sagen, was ich geantwortet habe – sehr artikuliert war es sicher nicht!

Als ich mich einigermaßen gesammelt hatte, überwog das Gefühl von Freude und Dankbarkeit, dass ich auf absehbare Zeit meine Forschung zusammen mit anderen vorantreiben kann, ohne dabei von den gerade überall herrschenden Sparzwängen zu sehr eingeengt zu werden. 

Der Leibniz-Preis ist die höchste Forschungsauszeichnung in Deutschland. Nun würdigt die DFG damit Ihre einflussreichen Beiträge in der theoretischen Philosophie – insbesondere im Bereich Metaphysik und Erkenntnistheorie. Womit beschäftigen Sie sich genau, und was kann sich ein Laie darunter vorstellen?

Grob gesagt geht es um alles, was mit dem „Können“ zu tun hat. Dazu gehören die erlernten und angeborenen Fähigkeiten, die wir Menschen haben: Wir können fast alle gehen und denken, und je nach Übung können manche von uns Fußball spielen oder Französisch sprechen.

Solche Fähigkeiten sind deshalb so wichtig, weil sie Handlungsspielräume eröffnen. Zweitens gehören zum „Können“ die Vermögen oder Kräfte, die auch unbelebte Dinge haben: Manche Metalle können Strom leiten, andere nicht; Schokolade kann bei sommerlichen Temperaturen schmelzen, Glas nicht. Das sind Eigenschaften, mit denen wir im Alltag zu tun haben, die aber auch empirisch in den Naturwissenschaften erforscht werden.

Eine dritte Form des Könnens möchte ich als bloße Möglichkeit bezeichnen. Hier sprechen wir eher davon, dass es sein könnte oder hätte sein können, dass … Etwa: Die letzten Bundestagswahlen hätten anders ausgehen können. Oder ganz grundsätzlich: Die Erdgeschichte hätte auch so anders verlaufen können, dass es gar nicht zur Entwicklung menschlichen Lebens gekommen wäre.

Unter diesen drei Formen des Könnens hat die zeitgenössische Philosophie sehr stark den Fokus auf die dritte, die bloße Möglichkeit, gelegt. Das hat auch gute Gründe – man kann damit in der formalen Logik besonders gut arbeiten. In meiner Arbeit nehme ich aber die ersten beiden Formen des Könnens wieder stärker in den Blick. Damit greife ich auf eine lange philosophische Tradition zurück, die mit Aristoteles begonnen hat und sich durch das ganze Mittelalter zieht, versuche aber, diese vor dem Hintergrund neuer Erkenntnisse in der Logik ebenso wie in anderen Disziplinen (von den Natur- bis in die Kognitionswissenschaften) neu und zeitgemäß zu denken.

Was heißt dieses „Können“ – also der zentrale Begriff ihrer Grundlagenforschung – bezogen auf menschliche Fähigkeiten, Fertigkeiten und Talente sowie für reale Strukturen in unserer Gesellschaft?

Fragen nach unseren individuellen Fähigkeiten stellen sich besonders dramatisch etwa im Recht: Hatte die angeklagte Person die Fähigkeit, ihre Handlungen zu überdenken und anders zu handeln? Aber natürlich auch im Bildungswesen, wenn etwa Schüler*innen nach ihren wahrgenommenen Fähigkeiten in verschiedene Schulformen sortiert werden. Wir können auch Machtstrukturen als Strukturen des ungleich verteilten „Könnens“ verstehen. In einer Klassengesellschaft etwa geht es nicht nur darum, wer was besitzt, sondern eben auch darum, wer was tun kann.

Ein anderer Aspekt, der mich persönlich besonders interessiert, ist das Ausloten der Grenzen unserer Fähigkeiten, individuell und kollektiv. Zum Beispiel: Können wir den Klimawandel noch aufhalten – und wenn nicht: Wie gehen wir damit um? Oder eine Frage aus der theoretischen Philosophie, meinem eigenen Bereich: Können wir den Idealen einer perfekten Rationalität folgen – und wenn nicht, was sollen wir dann tun?

Das Nachdenken über die Grenzen menschlicher Fähigkeiten war ein starkes Thema der Spätantike, etwa der Stoiker. Diese lebten wie wir in einer unübersichtlich gewordenen und (für damalige Verhältnisse) globalisierten Welt und plädierten angesichts der Unkontrollierbarkeit der äußeren Umstände für einen Rückzug ins Innere.

Das halte ich nicht für die richtige Lösung – und ich glaube, dass die Stoiker die Kontrolle überschätzt haben, die wir über unser Innenleben haben. Aber die Frage zu stellen, wo unsere Grenzen liegen und wie damit umzugehen ist, scheint mir eine wichtige und philosophisch wie auch gesellschaftlich fruchtbare Aufgabe.

Der Leibniz-Preis ist mit 2,5 Millionen Euro dotiert. Welche Schwerpunkte möchten Sie mit diesen Mitteln in den kommenden Jahren setzen?

Zum Glück habe ich noch ein wenig Zeit, um das zu entscheiden! Inhaltlich kann ich mir gut vorstellen, beim Thema Fähigkeiten zu bleiben und insbesondere den Umgang mit den Grenzen unserer Fähigkeiten weiterzudenken. Das ist auch Thema der von mir und Dominik Perler von der HU Berlin – übrigens auch Leibniz-Preisträger – geleiteten Kollegforschungsgruppe „Human Abilities“.

Wie die Kollegforschungsgruppe möchte ich auch den Leibniz-Preis verwenden, um Forschende aus der Philosophie und anderen verwandten Fächern möglichst niedrigschwellig miteinander ins Gespräch kommen zu lassen. Philosophie erfordert zwar durchaus längere Phasen des „einsamen“ Nachdenkens, aber sie ist ganz zentral auch etwas, das im gemeinsamen Gespräch entsteht. Für solche Gespräche möchte ich Raum und Möglichkeiten schaffen.

Ein wichtiges Anliegen ist Ihnen auch das Engagement für Erstakademiker*innen – insbesondere im Fach Philosophie. Warum ist das ein drängendes Thema?

Nach der Bildungsoffensive in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren lässt sich inzwischen wieder eine gesellschaftliche „Schließung“ an den Universitäten beobachten: Es wird immer schwieriger für Menschen aus bildungsfernen Schichten, an der Universität Karriere zu machen.

Die Philosophie ist für Bildungsaufsteiger*innen sicherlich nicht das naheliegendste Fach, schon aufgrund der unklaren Berufsaussichten (eine Ausnahme bildet hier das Lehramtsstudium). Sie kann aber auch für diejenigen, die sich dafür entschieden haben, besonders abschreckend sein, weil nicht selten Bildungsvokabular und Hintergrundwissen vorausgesetzt wird, das viel mit dem jeweiligen familiären Hintergrund zu tun hat. Das sehe ich an meinem Sohn, der mit acht Jahren schon selbstverständlich wusste, wer Sokrates war, und keinerlei Berührungsängste gegenüber Professor*innen haben wird – das sind schließlich nur Leute wie ich und viele meine Freunde.

Wer (wie ich selbst) in einem weniger akademischen Haushalt aufgewachsen ist, kennt solche Selbstverständlichkeiten nicht. Davon erzählen übrigens auch die Einträge auf dem von Daniel James und mir ins Leben gerufenen Blog „firstgenphilosophers“

Das ist nun aus mindestens zwei Gründen ein Problem: Zum einen ist es schlicht eine gesellschaftliche Ungerechtigkeit, wenn ein Studium und Lebensweg bestimmten Menschen nur aufgrund ihrer Herkunft vorenthalten bleibt. Wer sich für Philosophie interessiert, sollte unabhängig von der Familie einen Zugang dazu haben. Zum zweiten ist es ein Problem für unser Fach, wenn uns bestimmte Perspektiven fehlen – wenn zum Beispiel über das gute Leben nur von Menschen nachgedacht wird, die finanzielle Prekarität nie kennengelernt haben, oder über Arbeit nur von Menschen, deren Jobs immer interessant und erfüllend waren.

Gerade angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung ist es wichtig, im akademischen Betrieb auf möglichst viele verschiedene Erfahrungshintergründe und Perspektiven zurückgreifen zu können.

Auch Sie waren die Erste in Ihrer Familie, die einen Universitätsabschluss erworben hat. Weshalb haben Sie sich für das Fach Philosophie entschieden?

Das kann ich nur mit Liebe auf den ersten Blick beschreiben. Ich habe als 13-Jährige „Sofies Welt“ gelesen und danach gleich mit einer „richtigen“ Philosophiegeschichte weitergemacht. Ich habe mich dann in meiner Schulzeit autodidaktisch durch die Philosophiegeschichte durchgelesen und sehr schnell gewusst, dass das meine Welt ist. Dass ich einmal das Glück haben würde, mein ganzes Berufsleben damit verbringen zu dürfen, hätte ich damals allerdings nicht zu hoffen gewagt!

Zum Schluss: Welche philosophische Frage hat Sie zuletzt überrascht oder inspiriert – vielleicht sogar außerhalb Ihres eigentlichen Forschungsfeldes?

Gemeinsam mit Kolleg*innen aus der Geschichte der Philosophie lese und diskutiere ich gerade ein Buch des Philosophiehistorikers Robert Pasnau. Er argumentiert, dass unser Begriff des „Willens“ eine Erfindung des späten Mittelalters ist, die vor allem dazu diente, harte moralische Urteile (die ja im Mittelalter mit der Drohung der Hölle einhergehen) zu rechtfertigen.

Pasnau zufolge liegt der mittelalterliche Willensbegriff noch den aktuellen philosophischen Debatten über die Willensfreiheit zugrunde, aber auch unserer Rechtspraxis und unseren moralischen Urteilen. Ich weiß noch nicht, ob ich der These letzten Endes zustimmen werde, aber sie hat mich überrascht und fasziniert. Die historische Bedingtheit von Begriffen herauszuarbeiten, ist eine wichtige Leistung der Philosophie und insbesondere der Philosophiegeschichte.

Die Fragen stellte Christine Xuân Müller