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„Ich war wie auf Wolken“

Der DAAD zeichnet die burkinische Germanistikdoktorandin Carole Zoungrana für herausragende akademische Leistungen und soziales Engagement aus

02.12.2025

Lobt die Freundlichkeit Berlins: Preisträgerin Carole Zoungrana auf den Dächern der Rostlaube

Lobt die Freundlichkeit Berlins: Preisträgerin Carole Zoungrana auf den Dächern der Rostlaube
Bildquelle: Sören Maahs

Das Erste, was sich Carole Zoungrana nach ihrer Ankunft in Berlin gekauft hat, war eine Tageslichtlampe. Die Kälte des mitteleuropäischen Winters schreckt sie nicht, aber die frühe Dunkelheit und das graue Wetter setzen der Burkinabè zu. 

Drei Jahre lebt sie inzwischen in Berlin, sie promoviert an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule der Freien Universität und wurde nun mit dem DAAD-Preis für ausländische Studierende ausgezeichnet. „Es bedeutet mir viel, dass die Graduiertenschule mich nominiert hat“, sagt sie. Die mit 1000 Euro dotierte Auszeichnung, die jährlich an rund 200 internationale Studierende an ihrer jeweiligen deutschen Gasthochschule vergeben wird, würdigt außergewöhnliche Leistungen ebenso wie gesellschaftlichen oder hochschulinternen Einsatz. 

Aufgewachsen ist Carole Zoungrana in Ouagadougou, der Hauptstadt Burkina Fasos. Deutsch lernte sie ab der neunten Klasse, nichts Ungewöhnliches in dem westafrikanischen Land, wo an vielen öffentlichen Gymnasien die Sprache nach Englisch als zweite Fremdsprache unterrichtet wird. Der Bedarf an Deutschlehrer*innen ist groß: Die jüngste Datenerhebung für Burkina Faso berichtet von mehr als 90.000 Schülerinnen und Schülern, die von 300 Lehrkräften unterrichtet werden. 

In den vergangenen Jahren ist auch die Zahl der Germanistikstudierenden stetig gestiegen. Heute zählt die Germanistikabteilung an der Universität in Ouagadougou mehr als 2000 Studierende, doch gibt es nur wenige Dozenten, darunter keine Frau, erzählt Carole Zoungrana. „Soweit ich weiß, gibt es in der Germanistik in Burkina Faso bisher nur eine einzige Frau mit Doktortitel. Das hat mich motiviert, meinen eigenen Weg in der Germanistik zu gehen.“

Jenny Treibel in Ouagadougou 

So richtig wurde ihr Interesse für deutschsprachige Literatur erst im Studium geweckt. Der Deutschunterricht am Gymnasium bestand vor allem aus Grammatikübungen, erst im zweiten Uni-Semester begegnete sie dann längeren Prosatexten, Fontanes Jenny Treibel und Thomas Manns Das Wunderkind. Tatsächlich begann ihr Weg in die Germanistik mit einem administrativen Willkürakt: Nach dem Abitur bewerben sich Studieninteressierte in Burkina Faso auf drei Fächer, und eine Kommission weist zu. Bei ihr standen Germanistik, Jura und Anglistik zur Wahl, wegen ihrer guten Deutschnoten wurde sie der Germanistik zugeteilt. „Zum Glück“, sagt sie heute. 

Der Impuls für ihre Dissertation kam während der Masterarbeit. Sie schrieb über Abbas Khiders Roman Ohrfeige und stellte fest, dass Frauen in vielen Migrationserzählungen häufig nur als Opfer erscheinen oder als Begleiterinnen von Männern, selten als eigenmächtig handelnde Figuren. Für ihre Promotion suchte sie nach Romanen, in denen das anders ist.

Carole Zoungrana bei der Preisverleihung im Literarischen Colloquium Berlin am 6. November 2025

Carole Zoungrana bei der Preisverleihung im Literarischen Colloquium Berlin am 6. November 2025
Bildquelle: Lorenz Brandtner

„Mich interessiert, wie zeitgenössische deutsch- und französischsprachige Autor*innen über emigrierte Frauen aus Subsahara-Afrika schreiben“, erklärt Carole Zoungrana. Wie versetzen weiße Europäerinnen – aber auch Schwarze Autorinnen und Autoren wie Marie NDiaye und Louis-Philippe Dalembert – sich und die Leser*innen in die Sprach- und Gedankenwelt Schwarzer Afrikanerinnen? Gelingt es ihnen, die Gefahr zu umgehen, in Stereotypen zu verfallen?

Sich überlagernde Konfliktlinien

Die Figuren in den von ihr untersuchten Werken sind weiblich, sie sind Schwarz, manche queer, viele arm. Sie befinden sich also in einer Situation, in der sich mehrere Konfliktlinien überlagern: Geschlecht, Sexualität, Hautfarbe, Armut. „Ich untersuche, welche Machtverhältnisse die Autor*innen in ihren Werken hinterfragen oder reproduzieren. Gelingt es ihnen, ihre Figuren aus der Opferrolle zu befreien? Oder verbleiben diese, vielleicht unbeabsichtigt, in Abhängigkeit, etwa von weißen Institutionen?“

In Maria Braigs Nennen wir sie Eugenie zum Beispiel flieht eine lesbische Frau aus dem Senegal nach Deutschland, weil sie fürchtet, wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt oder getötet zu werden. Trotz menschenunwürdiger Bedingungen in den Erstaufnahmeeinrichtungen fühlt sie sich hier geschützter als in ihrer Heimat. Ihr Asylantrag wird letztlich abgelehnt, weil der Senegal als sicheres Herkunftsland gilt. In Maxi Obexers Roman Wenn gefährliche Hunde lachen begibt sich eine junge Frau aus Nigeria in die Prostitution, die ihr das Geld für die Überfahrt nach Europa verschaffen soll, wird von Schleppern getäuscht, erreicht schließlich Europa und findet nicht die erhoffte Freiheit. Nur in Birgit Weyhes Comic Madgermanes, der vom Schicksal mosambikanischer Vertragsarbeitender in der DDR erzählt, gewinnt die Protagonistin durch Bildung und den späteren Beruf als Ärztin gesellschaftliche Teilhabe.

Mehrsprachiger Alltag

„Als Fremde wahrgenommen und behandelt zu werden, ist eine zentrale Erfahrung der Romanfiguren“, sagt Carole Zoungrana. „Die meisten bleiben weitgehend isoliert, Begegnungen mit der weißen Mehrheitsgesellschaft finden kaum statt oder bleiben asymmetrisch.“ So entsteht das Gefühl des Fremdseins nicht nur aus äußerlicher Differenz, sondern aus räumlicher und institutioneller Trennung.

Die Frage, wie Sprache Zugehörigkeit stiftet oder auch verweigert, ist bei ihr durchaus biografisch verankert. Carole Zoungrana spricht Mòoré, die Muttersprache von etwa der Hälfte der Burkinabè, außerdem Französisch, Bissa, Dioula und Fulfulde. „In Burkina Faso werden mehr als 60 Sprachen gesprochen, Mehrsprachigkeit gehört zum Alltag. Als Kind lernt man die Sprachen, indem man miteinander spielt. Leider vergesse ich schon vieles.“

Neben ihrer Promotion engagiert sich Zoungrana ehrenamtlich in der katholischen St.-Ludwig-Gemeinde in Wilmersdorf. Sie begleitet Seniorinnen und Senioren bei Ausflügen, hilft im Gottesdienst. Außerdem ist sie Mentorin für Doktorandinnen und Doktoranden an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule, vor allem für solche, die zum ersten Mal in Europa sind. Sie hilft bei Formalitäten, Wohnungssuche, Orientierung und hört vor allem zu. „Viele brauchen einfach jemanden, der versteht, wie es ist, in einem Land neu zu sein.“

Die generelle Freundlichkeit der Welt

Ein DAAD-Stipendium führte sie 2022 an die Freie Universität, wo sie unter der Betreuung von Professorin Jutta Müller-Tamm forscht. „Sie ist eine großartige Mentorin“, sagt Zoungrana. Manchmal geht die Fürsorge über das Fachliche hinaus. In ihrem ersten Berliner Winter, als die Dunkelheit die Doktorandin körperlich erschöpfte, machte Müller-Tamm einen Arzttermin aus – und begleitete sie.

Überhaupt, die Freundlichkeit der Berliner, überall knallt sie einem entgegen: Da ist ihre Gastfamilie, mit der sie Feste feiert und Ausflüge unternimmt und bei der sie das Gefühl hat, mehr zu bekommen, als sie selbst zurückgeben kann. Oder der Vater aus der Kirchengemeinde, der sie bat, Taufpatin seines Kindes zu werden. Und die Familie, die sie zufällig bei einer Lesung des senegalesischen Schriftstellers Mohamed Mbougar Sarr im LCB kennengelernt hat und von der sie seither regelmäßig zu Konzerten eingeladen wird. „Natürlich begegne ich auch unfreundlichen Berlinern. Aber wer hier nett zu einem ist, der meint es auch so.“

An der Graduiertenschule erlebt sie eine solidarische Atmosphäre: „In den Kolloquien bekomme ich hilfreiche Rückmeldungen. Es gibt immer Kommiliton*innen, die meine Texte Korrektur lesen, obwohl sie selbst unter Zeitdruck stehen. Einer hat mir sogar seinen Laptop geliehen, als mein eigener kaputt ging.“

Was ihr am Leben in Berlin am meisten gefällt? Die Bibliotheken und Archive, die Lesungen und Festivals! Sie ist Stammgast in der Staatsbibliothek am Potsdamer Platz, mittwochs um 13 Uhr geht sie gegenüber in die Philharmonie zu den Lunchkonzerten. Die ganze Woche freut sie sich darauf. Einmal war sie in der Deutschen Oper, Medea, ihre erste Oper. „Ich war wie auf Wolken.“ Ihre Freundinnen in Ouagadougou bombardierten sie danach mit Fragen. „Oper kennen wir in Burkina nur aus dem Fernsehen.“

Wenn Carole Zoungrana Heimweh hat, geht sie in einen Afroshop und kauft Yams und Kochbananen. Gegen die Dunkelheit hilft die Lampe.