Erinnerungskultur: Die Spur der Bücher
60.000 Bände umfasste die Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Ein in der NS-Zeit verschwundenes Buch lag unbemerkt in der Universitätsbibliothek. Die Arbeitsstelle für Provenienzforschung hat seine Geschichte recherchiert
27.11.2024
Manchmal erzählen Bücher über ihren Inhalt hinaus eine eigene Geschichte. So auch Simon Bernfelds Werk „Jüdische Literatur“ von 1921. Ringo Narewski, Elena Brasiler, Marcus Dost und Susanne Paul waren wie elektrisiert, als das alte Buch des Rabbiners, Wissenschaftlers und Autors Bernfeld (1860–1940) ihnen in die Hände fiel.
Das Team der Arbeitsstelle Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin erforscht die Geschichte von Büchern, die in den Besitz der Freien Universität gelangten und deren genaue Herkunft nicht bekannt ist. Meistens handelt es sich um Bände aus jüdischem Besitz, die während der NS-Gewaltherrschaft durch Beschlagnahmung oder Flucht der ursprünglichen Besitzer buchstäblich in alle Ecken der Welt verstreut wurden.
Nach einer längeren Recherche war klar: Das Buch gehörte einst zum Bibliotheksbestand der renommierten Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Unter anderem auch Franz Kafka verbrachte in der Bibliothek während seiner letzten Lebensmonate, 1924 in Berlin, viele Stunden. Kafkas Werke enthalten zahlreiche Motive jüdischer Traditionen, der Autor reflektiert darin auch sein eigenes Jüdischsein.
Buch im KZ Theresienstadt
Die Hochschule war in der heutigen Tucholskystraße in Mitte beheimatet, 1942 wurde sie von den Nationalsozialisten geschlossen, die Bibliothek mit ihren 60.000 Bänden beschlagnahmt. „Ein auffälliger roter Stempel vorne im Buch gab uns entscheidende Hinweise: Das Exemplar war nach 1942 Bestandteil der Ghetto-Bücherei des KZs Theresienstadt“, berichtet Ringo Narewski, der die Arbeitsstelle leitet. „Das Buch kam zu uns aus der Bibliothek des Instituts für Evangelische Theologie der Freien Universität, die es 1976 in ihren Bestand eingearbeitet hatte. Nach der Auflösung des Instituts, 2009, wiederum wurde es in der Campusbibliothek aufgenommen.“
Der ursprüngliche Lieferant ist aber unbekannt. Deshalb bleibt nach wie vor offen, auf welchen Wegen das Buch nach der Befreiung des KZs Theresienstadt, 1945, zur Universität fand. Narewski und sein Team tauschten sich unter anderem mit Fachkolleginnen und -kollegen in Prag aus, die mehrere Tausend Bände aus dem Bestand der jüdischen Hochschule ins Jüdische Museum überführen konnten. „Leider gibt es kaum noch lebende Zeitzeugen, die uns beim Rekonstruieren helfen könnten“, sagt Narewski. „Deshalb brauchen wir unbedingt die Schwarmintelligenz eines guten Netzwerks.“
An dieser Stelle kommt das Leo Baeck Institute in Jerusalem mit seinem Forschungsprojekt „The Library of Lost Books“ ins Spiel: In einer weltweit zugänglichen Online-Datenbank werden wiedergefundene Bestände der Hochschule erfasst und für die interessierte Öffentlichkeit virtuell verfügbar gemacht. Das renommierte Institut trägt den Namen des Rabbiners Leo Baeck, einem der bedeutendsten Vertreter des liberalen deutschen Judentums. Dieser wiederum lehrte an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums.
Roter Ghetto-Stempel
Auch das an der Freien Universität entdeckte Buch – nach 2019 das zweite wiedergefundene, das der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums zugeordnet werden konnte – ist nun Bestandteil der „Library of Lost Books“. Ringo Narewski und seine Kolleginnen stellten den Fachleuten in Jerusalem alle Informationen und Details zur Verfügung. Das Buch verbleibt aber im Besitz der Universität.
„Wir konnten kaum glauben, dass dieses Buch jahrzehntelang einfach so in einem Regal der Zentralbibliothek stand und von Bibliotheksnutzenden jederzeit ausgeliehen werden konnte“, beschreibt Elena Brasiler ihr Erstaunen darüber, dass offenbar niemandem in der Bibliothek der rote Ghetto-Stempel aufgefallen war. Und wenn doch, hat es zumindest nicht dazu geführt, Nachforschungen in Gang zu setzen. Zusätzlich trägt das Buch deutlich erkennbar ebenfalls einen runden Stempel der Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, dazu, mit Bleistift vermerkt, die Exemplarnummer.
„Vor 40, 50 Jahren spielte die Provenienz neu eingearbeiteter Bücher sicherlich keine so große Rolle wie heute“, sagt Elena Brasiler. „Eine Sensibilisierung für das Thema ‚geraubte Kulturgüter‘ und ein Bewusstsein für die Bedeutung von Provenienzforschung gibt es ja erst seit wenigen Jahren.“
Ihre Arbeit sei „eine faszinierende Mischung aus Forschung, Detektivarbeit und Puzzle“, betont sie. Und genau das, ebenso wie die Geschichte des Fundes, möchte sie auch der jungen Generation vermitteln. Im Sommer lud das Team Schülerinnen und Schüler der Oberstufe des Berliner Arndt-Gymnasiums Dahlem zu einem Aktionstag im Rahmen des „Library of Lost Books“-Projekts ein. Nach einer kurzen Einführung in die Geschichte der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums sowie in den Online-Bibliothekskatalog Primo und in die gezielte Suche nach Büchern bekamen die Jugendlichen eigene Rechercheaufträge.
„Sie haben schnell erkannt, dass die Suche nach gestohlenen Büchern keine einfache Aufgabe ist“, sagt Brasiler. „Es wird nämlich nicht nur nach Titeln, Autorinnen und Autoren gesucht, sondern auch die Geschichte der Bücher und ihre Entstehungszeiten und -orte müssen berücksichtigt werden.“
Das setzt ein wenig eigenes Wissen und natürlich Interesse an den dunklen Kapiteln deutscher Geschichte voraus. Die Wissbegierde der jungen Leute sei aber offenkundig groß, sagt Elena Brasiler. „Wir hatten mit 15 Teilnehmenden gerechnet. Stattdessen kamen 30 – und alle waren begeistert.“