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Erlebte Geschichte – erzählte Geschichte

Ein Projektteam der Universitätsbibliothek arbeitet an einem Video-Archiv für die Freie Universität. Es umfasst bislang 75 Interviews mit Lehrenden, Studierenden und Beschäftigten, die in ganz besonderer Weise mit der Hochschule verbunden sind

07.07.2023

Lebendige Geschichte: Physik-Professor Ludger Wöste beim Interview in den Räumen der Experimentalphysik.

Lebendige Geschichte: Physik-Professor Ludger Wöste beim Interview in den Räumen der Experimentalphysik.
Bildquelle: Doris Tausendfreund

„Erzählen Sie uns bitte Ihre Lebensgeschichte!“ Dieser Satz steht am Anfang aller 75 Interviews, die seit Januar 2019 geführt wurden. Der Bitte kommen die Menschen nach – alle auf ihre eigene Art und Weise, mit persönlichen Perspektiven und Erzählungen, die in den meisten Fällen durch das Raster einer klassischen Institutionengeschichte fallen würden.

Wer erzählt hier? Wer sind die Chronistinnen und Chronisten dieser anderen, sehr lebendigen Universitäts­­­historie? „Wir haben versucht, bei der Auswahl möglichst repräsentativ zu sein“, sagt die promovierte Historikerin Doris Tausendfreund, die das Vorhaben an der Universitätsbibliothek leitet. Dass Präsidenten und Kanzler mit einem gewissen Schwerpunkt vertreten sind, resultiert aus deren Rolle. „Natürlich geht es auch darum, die maßgeblichen Entscheidungen zu dokumentieren, die die Entwicklung der Universität bestimmt haben – und die finden auf dieser Ebene statt“, erklärt Tausendfreund. „Und wir wollen möglichst viele Fächer und Fachbereiche abdecken, aber auch unterschiedliche Funktions- und Hier­archieebenen, also keine rein professorale Geschichtsschreibung betreiben.“

Wechselwirkungen zwischen Institution und Einzelpersönlichkeit

Die Mischung bietet einen Blick auf die Universität, in dem viel Alltagsgeschichte vertreten ist. Die Menschen, die ihre Geschichte erzählen, haben hier nicht nur gearbeitet, geforscht, gelehrt und studiert – ihr Leben ist mit der Freien Universität in besonderer Weise verbunden.

Da erinnert sich die Matrikelnummer 1, Stanislaw Karol Kubicki (1926–2019), an die Gründungsfeier der Freien Universität am 4. Dezember 1948 im Titania-Palast, während die Gründungsstudentin und spätere Dozentin Eva Strommenger-Nagel erzählt, wie sie die Schwierigkeiten gemeistert hat, die ihr als Frau im Wissenschaftsbetrieb der 1950er-Jahre begegneten. Die Professorin Marianne Braig berichtet sehr anschaulich, wie die Studentenbewegung in den Lehrbetrieb schwappte. Um den diesjährigen Gründungstag der Freien Universität am 4. Dezember werden die Ergebnisse des Projekts der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dabei gebe es zwei unterschiedliche Nutzungsmöglichkeiten, erläutert Doris Tausendfreund.

„Oral History“ stellt Erinnerungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ins Zentrum

In einem Online-Archiv werde es die ungeschnittenen Video-Interviews in voller Länge und erschlossener Form geben, begleitet von durchsuchbaren Transkripten, navigierbaren Inhaltsverzeichnissen und einem Register mit Erläuterungen. Die Möglichkeiten stehen vor allem Forschenden offen, die nach einer Registrierung unterschiedliche Fragestellungen an die Berichte anlegen können, etwa aus linguistischer, kulturwissenschaftlicher oder historischer Perspektive. „Mit diesem Archiv haben wir eine einmalige Quelle für wissenschaftliches Arbeiten geschaffen, die inhaltlich möglichst viel abdeckt“, sagt Doris Tausendfreund. „Deshalb haben wir auch nach der Lebensgeschichte gefragt und nicht etwa gesagt: ‚Erzählen Sie uns alles, was Sie über die Freie Universität Berlin wissen.‘“

Projektmitarbeiterin Dorothee Wein erläutert den zweiten Anwendungsbereich: „Für die Öffentlichkeit entwickeln wir eine Art Online-Ausstellung, in der sich Interessierte anhand von Personen, Themen und Zeiten durch die Geschichte der Freien Universität klicken können.“ In Themenfilmen, die aus einzelnen Elementen der Interviews erstellt werden, können Nutzerinnen und Nutzer sehen und hören, wie verschiedene Personen ein Ereignis der Geschichte der Freien Universität wahrgenommen haben.

Verflechtung von Berliner Stadt- und Universitätsgeschichte

Oft ergänzen sich die Blickweisen, etwa bei der Gründungsfeier der Freien Universität, an die sich sowohl Gründungsstudent Stanislav Karol Kubicki erinnert als auch Edzard Reuter, Sohn des damaligen Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter. Bei Erinnerungen zur Rolle des Wortführers der Studentenbewegung Rudi Dutschke fügen sich die Erzählungen der Zeitgenossen zu facettenreichen Bildern. Umfangreiche Zusatzmaterialien ermöglichen es den Nutzenden, die Erzählungen einzuordnen.

An einem Zeitstrahl können Nutzende historische Ereignisse in Berlin, in Deutschland und in der Welt ablesen, die zeitgleich zu den Entwicklungen an der Freien Universität stattfanden, etwa die Berlin-Blockade während der Gründungsphase. Themen und Zeiten werden so mitein­ander vernetzt.

„Hier lässt sich immer wieder besonders deutlich erkennen, wie eng die Berliner Stadtgeschichte mit der Geschichte der Universität verwoben ist“, sagt Dorothee Wein. Offenkundig wird das bei Gesprächspartnern wie den ehemaligen Regierenden Bürgermeistern Eberhard Diepgen (CDU) und Walter Momper (SPD), aber auch durch die Erzählung des emeritierten Meteorologie-Professors Günter Warnecke: Dieser berichtet, wie Entwicklungen am Institut für Meteorologie einst dazu geführt hätten, dass in Berlin eine neue Form der Wetterwarnung eingeführt worden sei.

Uni-Geschichte als „work in progress“

Das an der Universitätsbibliothek angesiedelte Projekt ist zunächst auf fünf Jahre angelegt und wird von der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e. V. unterstützt. Das Projekt zeigt, wie man Universitätsgeschichte auch entdecken kann – als von Menschen vorangebrachtes Geschehen ohne einen festen Endpunkt.

Der Jahrestag im Dezember und die Veröffentlichung des Archivs sowie der Website könne als eine Art Grundsteinlegung verstanden werden, hofft Tausendfreund. „Die Freie Universität ist eine sehr große Universität – auch wenn wir versucht haben, repräsentativ zu sein, würden wir Themen wie die Rolle von Frauen oder von Studierenden gerne noch stärker herausarbeiten. Eine Fortführung des Projekts könnte außerdem die weitere Entwicklung der Universität dokumentieren.“